Die Elenden von Lódz
Hüfte.
Auf halbem Weg zum Kirchplatz begegneten sie Meir Klamm mit seinem Wagen. Später sollte Herrn Muzyks Bestattungsinstitut Zugang zu einem großen Wagen erhalten, mit sechsunddreißig ausziehbaren Fächern und Laden für die Toten; doch zur damaligen Zeit gab es nur einen Wagen mit Platz für eine Leiche, und der wurde von einer alten Mähre gezogen, die stets hinausbefohlen wurde, wenn es dem Getto an Zugtieren fehlte: Sie war derart ausgemergelt, dass die Rippen an den Flanken vorstanden wie die Bänder eines schlecht geflochtenen Bastkorbs. Die Mähre erkannte man vor allem am Gang wieder. Sie machte einen oder ein paar Schritte vorwärts und blieb dann stehen; wieder folgten ein oder ein paar Schritte; der alte Meir oben auf dem Kutschbock konnte nichts tun, um das Tempo zu beschleunigen.
Nun riss der Älteste die Zügel an sich und fragte Meir, ob er sich im Klaren darüber sei, dass die Behörden ein
Ausgangsverbot
verhängt haben und dass er als Strafe für den Verstoß erschossen werden könne. |112| Meir erwiderte darauf, dass er mit dem Wagen bereits lange vor Inkrafttreten des Ausgangsverbots unterwegs gewesen sei, und was solle er da tun?
Ausgangsverbot oder nicht: die Leute starben trotzdem.
Während dieses Wortwechsels hätte Mojsze Kamersztajn alle Zeit der Welt gehabt, um sich davonzumachen. Der Älteste ließ sogar seine Hand los. Mojsze aber blieb stehen und starrte. Und als der Älteste fertig war, schob sich Mojszes Hand wieder in die des Präses, und die beiden fuhren fort, über was es nun auch gewesen sein mochte, das der Älteste erzählt hatte, zu reden.
Und so ging es den ganzen Weg weiter bis zum Roten Haus, in dem der Vernehmungsbeamte der Kripo auf seinen »Täter« wartete.
*
Vier Tage später berief der Präses eine Zusammenkunft seines Ältestenrates, sämtlicher
Getto- resort-lajter
und des restlichen Verwaltungspersonals im Kulturhaus ein. Die eröffnete er mit einer Rede, in der er über seine Erlebnisse in Warschau Bericht erstattete:
Ich bin in Warschau gewesen. Manche machen mir das zum Vorwurf im Hinblick auf den hohen Preis, den die Behörden für die Organisierung solcher Fahrten erheben.
Dennoch will ich euch berichten, was ich gesehen haben:
In Warschau gibt es niemanden, der das Wohl der Allgemeinheit im Auge hat. Die Leute sehen ausschließlich sich selbst. Und den Leitenden in Czerniakóws Judenrat bleibt keine andere Wahl, als zuzusehen, wie das Geld heimlich in die aufgehaltene Hand von Ärzten wechselt, die sich um die Kranken kümmern.
Behandlung bekommen nämlich ausschließlich jene, die dafür bezahlen können.
Lebensmittel und Medikamente werden eingeschmuggelt. Doch nur die Reichen können es sich leisten, die geforderten Preise zu bezahlen.
Ich kann euch berichten, dass Kriminalität und Schmuggel zur größten Industrie des Gettos angewachsen sind. In Warschau ist im
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Unterschied zu uns hier der Schmuggel die einzig tatsächlich funktionierende Industrie.
Nicht die Arbeit aller für das gemeinsame Wohl aller zählt. Sondern nur der Kampf eines jeden gegen jeden.
Sollten wir Juden uns so zueinander verhalten? Wünscht ihr, dass wir uns auch in meinem Getto so zueinander verhielten?
Das glaube ich nicht, selbst wenn ich weiß, dass es auch hier manch einen gibt, der meint, das wäre die Lösung all unserer Probleme.
Es geht nicht darum, unsere Bürden auf alle gleich zu verteilen, sondern jeder soll für die seine Verantwortung übernehmen.
Ich will euch sagen, wohin so etwas andernfalls führt.
Nicht zum kurzfristigen Wohlergehen des einen oder anderen, sondern zu allgemeiner Anarchie.
Ganz vorn auf dem Podium stand ein kleiner Tisch, bedeckt mit einem weißen Tuch. Auf dieses Tuch hatte der Älteste seinen großen Koffer gestellt. Zwei Männer des Ordnungsdienstes hielten zu beiden Seiten Wache, um ein Ausplündern zu verhindern. Und das, obwohl der Koffer – wie der Älteste ausdrücklich unterstrich – keinerlei Wertgegenstände enthielt, sondern nur Briefe, Grüße (auf Papierfetzen niedergekritzelt), Fotografien in ausgeblichenen Rahmen, eine Haarlocke in einem Schächtelchen; eine Halskette, ein Amulett.
Gleichwohl wurde der Tisch gestürmt, sobald sich der Deckel hob.
Der diensthabende Polizeichef musste Verstärkung anfordern. Mitten in dem Tumult wurde die Tür zum Saal aufgestoßen, und der oberste Polizeichef höchstpersönlich, Herr Leon Rozenblat, schritt herein, den Nacken des jungen Herrn Kamersztajn
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