Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
erweitern. Oberbürgermeister Werner Ventzki beugte sich von dem hohen Podium, auf dem er zusammen mit Amtsleiter Biebow und Verwaltungschef Ribbe saß, zu Rumkowski hinunter und teilte ihm sein heiliges Versprechen mit:
     
    Rumkowski, Sie sollen erhalten, was Sie wünschen. Das Getto wird erweitert werden. Mit zwanzigtausend Juden wird es erweitert. Berlin
|117|
hat beschlossen, diese aus den alten und den neuen, annektierten Teilen des Altreiches herzuschicken.
    Weitere zwanzigtausend von Ihresgleichen, Rumkowski!
    Größer können wir Ihr Getto wohl nicht werden lassen.

 
    |118| Von seinem Ausguckposten auf dem Dach der Ziegelei konnte Adam Rzepin die »ausländischen« Juden im Getto ankommen sehen. Tausende von Menschen in langer Reihe, gleich einem endlosen Seil am niedrigen Horizont. Oberhalb des langgezogenen Menschenseils wölbte sich der Oktoberhimmel weit und öde über dem flachen Land. Einen Augenblick war der Himmel fast schmerzhaft offen und blau, im nächsten wurde er von rasch herandrängenden schwarzen Wolken verdeckt. Kurze Zeit später war die unablässig vorwärtsstrebende Menschenreihe in der schwarzen Wolkenmasse verschwunden, als hätte diese sie verschluckt. Als die Neuankömmlinge erneut sichtbar wurden, war ihr Gepäck, die Kleidung, die sie trugen, einfach alles von einer feinen Schneeschicht bedeckt.
    Adam formte die Hände vor dem Mund zum Trichter und rief zu Jakub Wajsberg hinunter:
Die Ausländer kommen! Die Ausländer kommen!
Er sah, wie Jakub erschrocken das Gesicht nach oben wandte; gleich darauf schwang er sich, dem Schmuggler Zawadzki gleich, mit einer einzigen Bewegung vom Ziegeleidach auf den noch unbefleckten schneegepuderten Boden.
    Doch Hunderte Gettobewohner schienen denselben Gedanken wie er gehabt zu haben. Straßen und Gassen, die nach Marysin hinausführten, waren mit Leuten verstopft. An der Marynarska hatte Gertlers Sonderkommando eine Wegsperre errichtet. Niemand, der nicht zuvor bezahlte, wurde durchgelassen: zwanzig Mark allein für den Einlass, weitere zwanzig, wenn man mit einem Handwagen kam. Adam besaß nur seine beiden wunden Hände, doch der ungehaltene Posten bestand darauf, auch für diese Geld zu bekommen.
    Keine Träger werden durchgelassen, die nicht das, was sie schulden, erst begleichen!
    Von seinem Platz hinter Sperren und Zäunen, durch die er nie hindurchkommen |119| würde, sah Adam Rzepin, wie einer der Neuankömmlinge – ein kurzgewachsener Mann mit Hut und elegantem Gabardinemantel – in der Innentasche seines Jacketts nach Geld suchte. Neben dem merkwürdigen Ausländer stand die Frau dieses Ausländers, in engsitzendem Rock, richtigen Strümpfen und hochhackigen Schuhen, und neben ihr wiederum deren drei beinahe erwachsenen Kinder, zwei Jungen und ein älteres Mädchen. Die Kinder schauten mit großen Augen umher. Sie hatten offenbar nicht die geringste Ahnung, wo sie hier gelandet waren. Mit einer Geste, die verschwenderisch wirken sollte, seine Verwirrung aber nur noch weiter unterstrich, zog der Neuankömmling seine Brieftasche hervor und steckte dem Träger ein paar Scheine zu.
    Neben ihnen standen all die mitgebrachten Koffer bereits auf dem Karren des Trägers gestapelt und festgezurrt: ein Berg von Gepäck.
    *
    Schnell, schnell …!
    Mach, dass du hier wegkommst, dumme Judensau …
     
    Das war das Erste, was Věra Schulz hörte: die Stimme eines deutschen Gendarmen, die scharf, aber blechern durch die vielen geschlossenen Wagentüren drang. Dann wurden die Türen von außen geöffnet, ein dunkler metallischer
Klang
durchlief den gesamten Zug, und plötzlich herrschte lärmendes Chaos, als die Menschen, die viele Stunden steif und reglos dagesessen hatten, sich nun mühsam und widerstrebend in Bewegung setzten.
     
    Sie notierte das Datum in ihrem Schreibheft:
    4. Oktober 1941; Transport Nr.: »Prag II«
     
    In der Nacht musste es geschneit haben; das Schneelicht schnitt ihr scharf in die Augen, die in der unerwarteten Kälte tränten. Kein Bahnsteig: nur nackter gefrorener Boden. Zu den geöffneten Waggontüren führten schräge Bretterstege derselben Art, über die sonst Vieh entladen |120| wurde. Kranke und Alte streckten unsicher und verwirrt die Arme aus, und Passagiere, die bereits Boden unter den Füßen hatten, halfen ihnen hinunter. Unten angekommen: entsetzliches Gedränge, das entsteht, wenn Tausende von Menschen nicht wissen, in welche Richtung sie gehen sollen.
    Deutsche Uniformierte pressen von allen Seiten nach;

Weitere Kostenlose Bücher