Die Elenden von Lódz
onaniert mit langen, krampfhaften Bewegungen der rechten Hand, während sich die Finger der linken wie ein klopfendes Herz öffnen und schließen. Sein Blick hat den ihren eingefangen, lange bevor sie begreift, was er da tut, und sie sieht, dass er lächelt, bei dem langen Aufwärtsweg zum Orgasmus: das blanke speichelnasse Lächeln völlig schamlos und voll billigender Gewissheit.
Dann geschieht das, was sie unbewusst die ganze Zeit erwartet hat Als sie aufblickt, ist der Klavierstimmer wieder auf die Leiter gestiegen. Sein Gesicht ist schwarz wie Schlamm oder so, als hätte jemand Ruß darübergekippt und Augen und Lippen nur notdürftig freilegen können. Sie sieht jetzt deutlich, dass er bedeutend älter ist als die fünfzehn, sechzehn Jahre, die sie bisher angenommen hat: ein kleiner Gnom, ein Kind, das mit dem Wachsen aufgehört hat und vorzeitig in den Körper eines erwachsenen Mannes gealtert ist. Allerdings eins mit geschickten Händen. In zwei Sekunden schafft er es mit den Stimmgabeln aus seinen Segeltuchbeuteln, die Klingel erneut kurzzuschließen, und das Signal fährt, einer akustischen Stoßwelle gleich, durchs ganze Haus …
Riiiiiiiiiiiiii-iiiiing –
und mit einem Mal ist es, als flaue der Sturm ab.
Da steht der Älteste plötzlich wieder mitten unter ihnen. Er ist hochrot im Gesicht, und sein ansonsten so pedantisch gepflegter Anzug ist zerknautscht und aufgeknöpft-
Jemand hat anscheinend angerufen …?
Es ist mehr eine Frage als eine Feststellung. Offensichtlich weiß er nicht, was er sagen soll.
Durch die halboffene Tür von Direktor Rubins Büro sieht Rosa die von Chaja Meyer hineingetragene Emaillewanne umgekippt auf dem |171| Boden liegen, umgeben von Wasserpfützen. Von Mirjam, die mit ihm im Zimmer war, keine Spur.
Direktor Rubin
, sagt der Älteste.
Es klingt, als brauchte er vor allem einen Namen, um seine Verwirrung daran festzumachen. Als ihm das Aussprechen des Namens dann gelungen ist, ist es, als würde er sich plötzlich entschließen, und er wiederholt seinen Befehl, jetzt erneut mit Autorität:
Direktor Rubin, Sie kommen mit mir!
Und greift wieder nach der Tür, wartet, bis Direktor Rubin eingetreten ist; zieht dieselbe hinter sich zu und dreht aufs Neue den Schlüssel im Schloss.
Chaja, die Köchin, erwacht zuerst aus ihrer Erstarrung. Mit zwei langen Schritten ist sie beim Klavier und reißt Deborahs Hände von den Tasten. Gleichzeitig kniet sich Rosa Smoleńska vor Werner Samstag hin, der mit aufgeknöpfter Hose noch immer auf dem Boden liegt, und obgleich er fast doppelt so groß ist wie sie, gelingt es ihr, seinen schlaffen Körper auf ihre Schultern zu bugsieren und ihn dann rückwärts die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern im Obergeschoss zu tragen.
In dem entstandenen Durcheinander denkt jedoch keiner an Mirjam. Tatsächlich begreifen Rosa und Malwina erst lange nachdem sie alle Kinder wieder ins Bett bekommen haben, dass Mirjam verschwunden ist.
Sie durchsuchen das gesamte Haus. Auch den Kohlenkeller, in dem sich der Klavierstimmer unter ein paar verschlissenen Decken eine Art Schlafnest eingerichtet hat. In dem vergossenen Waschwasser unter Doktor Rubins Schreibtisch findet Rosa später das Willkommensalbum, aus dem die sorgfältig kolorierten Bilder Hagars und Lots herausgerissen und zerfetzt worden sind.
Mirjam aber finden sie nicht.
Gegen fünf Uhr morgens kommt Józef Feldman wie gewöhnlich zum Haus heraufgegangen, am Fahrradlenker die Kohleneimer. Direktor Rubin gibt Feldman eine batteriebetriebene Taschenlampe, und Feldman begibt sich zur Suche in die leere Dämmerung hinaus.
Als das erste Tageslicht über die Mauer an der Bracka reicht, findet |172| er die Leiche in einem unberührten Schneewall zwischen einem nunmehr geschlossenen Kolonialwarenladen und dem Stück Niemandsland, das zu den Drähten und Wachtürmen am Radogoszcz-Tor führt. Mirjam ist mit dem demselben knielangen schwarzen Mantel bekleidet wie an dem Tag, als sie ins Grüne Haus kam. Wenige Meter von der Leiche entfernt liegt auch der Koffer mit den Kleidern, den Stoffpuppen und den schwarzen Lackschuhen, die von den anderen Kindern so bewundert worden waren.
Wie sie ungesehen aus dem Haus gelangen konnte, war allen ein Rätsel. Vielleicht war sie durch die Hintertür, über die Kellertreppe gegangen, die, wie von diesem Tag an klar war, nicht nur Feldman, sondern auch der Klavierstimmer benutzte; von dort aus konnte sie den Hof auf der Rückseite des Hauses überquert
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