Die Elenden von Lódz
Schwager …!
Und rund um den hageren Eigenbrötler brachen die Leute in Lachen aus. Sie lachten so sehr, dass sie sich mitten auf der Straße auf den Hintern setzten; starke Pranken wischten Tränen aus den Augen, packten Benji dann voller Begeisterung und hievten ihn in die Luft.
Warum waren die Zuhörer so ausgelassen? Weil jemand im Getto endlich Klartext redete und sagte, was ein jeder wusste, doch niemand laut zu sagen wagte? Und weil diese wahren Worte nicht von einem vorübereilenden Fremden stammten, sondern direkt aus den innersten Kreisen – von einem, der es logischerweise wissen musste –, vom Bruder der jungen Frau, die zu ehelichen
der Alte
letzten Endes beschlossen hatte –
vom zukünftigen Schwager des Präses selbst?
|178| Schwester und Bruder. Sie waren das Gegenteil voneinander, aber auch Voraussetzung füreinander:
Wo sie die feste Regel war, war er die unstete Ausnahme.
Wo sie wie das Licht einer Lampe leuchtete, war er die große Dunkelheit.
Wo sie die stets Lächelnde war, frei von Schuld, war er das Gewissen.
Wo sie (trotz körperlicher Zerbrechlichkeit) für die Stärke stand, die es zur Überwindung aller Hindernisse bedurfte, stand er gleichsam für die ständige Schwäche, die sie strafen würde bis zum Tag, als er starb, und selbst noch darüber hinaus.
Hätte es Benji nicht gegeben, hätte Regina kaum ja gesagt, als der Älteste ihr seinen Heiratsantrag unterbreitete. Möglicherweise hätte sie sich weiter mit ihm »im Sekretariat« getroffen, wie die anderen Geliebten es taten. Was gab es für Alternativen? Die Frau, die einmal mit der Gegenwart des Herrn Präses beglückt worden war, hatte kaum eine andere Wahl, als sich seinem Willen zu fügen.
Heiraten war indes etwas ganz anderes. Ihr Vater, Rechtsanwalt Aron Wajnberger, hatte sie wiederholt vor den Folgen gewarnt, wenn sie sich für Zeit und Ewigkeit mit diesem Fanatiker vermählte. Für Regina aber war das Getto wie ein langsames Ersticken. Tagtäglich wurde ihr ein weiteres Stück des Lebens genommen, das sie lebte. Ihr gealterter Vater saß nunmehr im Rollstuhl, er vermochte nicht mehr aufzustehen oder aus eigener Kraft zu gehen; und was würde geschehen an dem Tag, wenn der Vater – im Lager des Ältesten trotz allem ein geachteter und respektierter Jurist – nicht mehr seine schützende Hand über seine Kinder halten konnte. Und was würde mit Benji geschehen?
Unterdessen lief ihr Bruder natürlich auf seine charakteristische Weise im Getto umher und tat alles, um die Stellung zu untergraben, die sie sich selbst und ihrer Familie hatte verschaffen können.
Insbesondere gefiel es Benji mit den »neuangekommenen« Juden aus Berlin, Prag und Wien zu sprechen, die jetzt in immer größerer Panik die Gettomärkte aufsuchten. Ihnen konnte er nämlich erzählen,
wie es sich tatsächlich verhielt
: dass die nun bevorstehenden Deportationen nur |179| der Anfang einer
Aussiedlung massiven Umfangs
waren und die Deutschen nicht eher Ruhe geben würden, bis auch der letzte lebende Jude aus dem Getto verschwunden war.
Und die Neuankömmlinge sollten nicht glauben, dass sie sicher wären, nur weil man sie schon einmal ausgesiedelt hatte oder weil sie in ihrer Eigenschaft als »deutsche Juden« irgendeine besonders zu schonende Elite darstellten:
In diesen Zügen fahren wir alle in derselben Klasse, meine Freunde!
Nur der Präses glaubt, dass die Deutschen einen Unterschied bei guten, arbeitsamen Juden machen. Tatsächlich sind wir alle für sie derselbe Abschaum – und wenn sie uns an ein und demselben Ort versammelt haben, dann nur, um uns desto einfacher fortschaffen zu können. Meine Freunde, glaubt meinen Worten. Genau das wollen sie. Uns auf die Seite schaffen.
Manche der Neuankömmlinge fanden all das, was Benji sagte,
entsetzlich
und wollten nichts mehr davon hören. Andere jedoch lauschten ihm aufmerksam und lange.
Benji war einer der wenigen »richtigen« Gettobewohner, die sie getroffen und auch verstanden hatten – er sprach ein reines, klares Deutsch, mit dem man nicht nur Schopenhauer, sondern auch praktische Dinge diskutieren konnte, wie was zu tun war, wenn man eine richtige Wohnung beantragen wollte, oder wo im Getto man Briketts oder Paraffin bekam. Überdies hatte Benji allem Anschein nach Beziehungen bis in die höchsten Gettokreise. Wenn es ihnen gelang, seinen Redefluss richtig zu deuten, würden sie zumindest die Andeutung einer Antwort auf die Fragen erhalten, die sie alle
Weitere Kostenlose Bücher