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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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geschrillt hatte; und dass sie den Klavierstimmer während der |163| Vorstellung mehrfach aufgefordert hatte, er möge so freundlich sein und diesen Radau abstellen und es in Zukunft unterlassen, Dinge anzufassen, die ihm nicht gehörten.
    Vielleicht aber waren die schrillen, wütenden Klingelzeichen, dieses erste und einzige Mal ausgenommen, ja nicht das Werk des Klavierstimmers. Vielleicht war es so, wie Fräulein Estera Daum später erklärte: dass man vom Sekretariat des Vorsitzenden den ganzen Abend versucht hatte, sich mit dem Grünen Haus in Verbindung zu setzen, aber keine Antwort erhalten hatte. Der letzte Versuch war weit nach Mitternacht erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rosa die aufgedrehten, verschwitzten Kinder endlich aus ihren Kostümen und ins Bett bekommen und sich auch selbst bereits zur Ruhe begeben.
    Riiiiiiii-iiiiing …!
    Sie hörte Direktor Rubin im Büro im Erdgeschoss umherstapfen, auf der Jagd nach dem Telefon, das versteckt zwischen all den Büchern und Papieren auf dem Schreibtisch stand; dann seine Stimme, die sich meldete und sich sogleich untertänig fügte,
ja
sagte,
natürlich
und
sofort, Herr Präses
. Ihr war umgehend klar, was da im Anzug war; rasch warf sie sich eine Strickjacke übers Nachthemd und ging von Zimmer zu Zimmer, um die Kinder wach zu rütteln:
     
    Zieht euch schnell an, der Herr Präses ist unterwegs!
    Beeilt euch!
     
    Normalerweise brauchte das Personal des Grünen Hauses zwischen dreißig und vierzig Minuten, um alle Kinder zu waschen, zu kämmen und anzuziehen. Das war in etwa die Zeit, die es von Fräulein Estera Daums Anruf, mit dem sie das Haus
warnte
, bis zur Ankunft des Ältesten dauern würde, der von seinem Büro den ganzen Weg bis hinaus nach Marysin nahm.
    Jetzt aber waren die Kinder so erschöpft, dass es ihr nur mit äußerster Mühe gelang, sie auf die Beine zu bringen. Als es Malwina und ihr endlich gelungen war, die Kinder in einigermaßen ordentlichen Reihen aufzustellen, die jüngsten ganz vorn und die älteren mit zunehmender Größe auf den Treppenstufen dahinter, war der Älteste bereits seinem |164| Wagen entstiegen und unterwegs ins Haus. Ohne auch nur einen Blick nach rechts oder links zu werfen, rauschte er an Mirjam vorbei, die versuchte, ihm das Album mit den illustrierten Talmudversen zu übergeben, das die Kinder für den Fall eines Besuches vorbereitet hatten. Der Allerhöchste des Gettos schaute vorläufig weder zu der jungen Mirjam noch überhaupt zu irgendeinem der anderen Kinder, reichte Chaja nur Hut, Spazierstock und Mantel und rief Direktor Rubin lautstark zu:
     
    Doktor Rubin, wollen Sie so freundlich sein, mich in Ihr Büro zu begleiten.
    Ja, auf der Stelle …! Und bringen Sie die Listen aller Kinder mit!
     
    Schon in Helenówek hatte Fräulein Smoleńska tagtäglich versucht, die Stimmungswechsel des Alten wie das Wetter zu deuten. War er heute ruhig und zufrieden mit sich selbst? Oder hatte ihn erneut dieser seltsame
Zorn
gepackt, der sich seiner dann und wann bemächtigte?
    Fast immer gab es bestimmte Anzeichen. Etwa wie er die Hände bewegte: Waren sie ruhig und sicher oder fahrig, wenn sie in der Jackentasche nach Zigaretten suchten. Oder hatte er das aufgesetzt, was Chaja Meyer den »Luftikusblick« nannte: dieses listige kleine Lächeln im Mundwinkel, das möglicherweise darauf hindeutete, dass er sich
Gedanken
, vielleicht auch
Pläne
machte, in Bezug auf einen von ihnen oder sogar auf eins der Kinder.
    Zu dieser späten Stunde aber hatte sie keine Anzeichen bemerkt. Der Älteste wirkte korrekt, ernsthaft und entschlossen. Obendrein saß er mit Direktor Rubin ungewöhnlich lange im Büro. Mehrere Stunden waren vergangen. Dann hatte Chaja, allem Anschein nach auf Anweisung aus dem Büro, damit begonnen, warmes Wasser aus dem großen Küchenkessel in Eimer zu schöpfen, und Fräulein Malwina war zwischen den Tischen umhergegangen und hatte Handtücher herausgelegt. Da war es
halb drei Uhr
morgens, und weil kein gegenteiliger Befehl erfolgt war, standen die Kinder noch immer auf der Treppe aufgereiht. Etliche schliefen bereits, die Köpfe aneinander, gegen die Wand oder das Treppengeländer gelehnt; oder waren wie Samstag auf die darunterliegende |165| Stufe gerutscht, wo sie dasaßen, die Hände zwischen den Knien und die Knie bis zu den Ohren hochgezogen, nicht unähnlich einer Grille.
    Da erschien der Präses von Neuem. Hinter ihm Direktor Rubin, in der Hand die Zugangslisten.
    Rosa Smoleńska sollte sich im

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