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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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haben, den Spiel- und Sportplatz aller Kinderheimkinder in Marysin. Doch statt nach rechts, zur Stadt hin, abzubiegen, musste sie sich links gehalten haben. Vielleicht war sie vom Licht und Lärm des Bahnhofs Radogoszcz angelockt worden und dann, ohne es zu wissen, in die Sperrzone geraten, wo der deutsche Wachtposten in seinem hohen Turm stand, das Maschinengewehr auf sie gerichtet.
    Der Schuss musste sie seitlich in den Kopf getroffen haben, denn in einem fast zwanzig Meter weiten Bogen lag Blut auf dem Schnee. Aus dem Schneewall, den der Wind in der Nacht über ihrem Körper zusammengeweht hatte, ragte ihr Arm wie ein Pfahl in die Luft. Weitere Zeichen gab sie nicht von sich.
    Als sie die steifgefrorene Leiche in den Heizungskeller des Grünen Hauses trugen, bestand Werner Samstag darauf mitzukommen. Während Rosa und Chaja die Leiche wuschen und einhüllten, schien etwas mit dem jungen Samstag zu geschehen, was Rosa Smoleńska auch Jahre später nicht zu erklären vermochte. Er sprach nicht das Kaddisch – vermutlich beherrschte er nicht einmal dessen Worte –, doch es war, als würde sein Gesicht plötzlich weich und sinke in sich zusammen.
    Wekt dem tatn ojf
, sagte er nur und kauerte sich neben der starren Leiche auf den Boden.
    In derselben Stellung wie Mirjam, den Arm wie ein Ausrufezeichen in die Luft gestreckt, lag er dann den ganzen folgenden Tag dort, bis |173| Józef Feldman erneut mit seinen Kohleneimern zum Heizen erschien. Da herrschten bis tief in den Kohlenkeller Minusgrade, und ein weißer Frostbelag bedeckte die Innenseiten der Fenster. Mirjam war tot, aber Werner Samstag lebte. Er schlief in der Eiseskälte mitten auf dem Boden, die Arme nun fest um seinen Körper geschlungen und mit einem hellen, gänzlich friedlichen Lächeln auf den Lippen.

 
    |174| Gerechtigkeit und Gesetz herrschten im Getto –
    Der gerechter un dos gesez.
    Für die Gerechtigkeit sorgte der blinde Doktor Miller. Tag für Tag schleppte er seinen von Prothesen gestützten Leib durch die Gassen des Gettos, setzte Häuser und Fabriken unter Quarantäne und sorgte dafür, dass die Hausfrauen sich zu den Gasküchen begaben, die er extra für sie hatte einrichten lassen und in denen man ihnen Trinkwasser zu einem unerheblichen Preis von zehn Pfennig pro Liter abkochte. Über das Gesetz bestimmte der apfelbäckige Richter Szaja Jakobson. Inzwischen hatte man ein spezielles
Schnellgericht
etabliert, das unmittelbar, nachdem ein Verstoß erfolgt war, eine Strafe zumaß. Mit der Baskenmütze in der Hand traten Arbeiter vor die Schranke, die man beim Stehlen von Schuhbändern ertappt oder die sich widerrechtlich ein paar Dekagramm Holzspäne zugeschanzt hatten.
    (Als Strafe konnten sie wählen zwischen
Fäkaliendienst
und
Deportation
. Die meisten wählten den
Fäkaliendienst
, und damit erwies sich auch diese Sache als für das Getto von Nutzen.)
    Mit Sauberkeit und Disziplin würde das Getto von Tag zu Tag überleben.
    So hatte es der Älteste in seiner grenzenlosen Weisheit bestimmt. Für Liebe oder andere Ausschweifungen war das Getto unter den gegenwärtigen historischen Umständen kaum der rechte Platz. Dennoch sollte es auch der Liebe auf ihren seltsamen Wegen gelingen, die Drähte ins Getto zu überwinden und das Leben aller zu verändern. Nicht zuletzt das des Ältesten selbst.
     
    Zum Vorsitzenden seines Schnellgerichts hatte der Präses des Gettos einen jungen Juristen mit einigen Zukunftsaussichten namens Samuel Bronowski befördert und ihm eine Sekretärin namens Rywka Tenenbaum |175| zur Seite gestellt. Fräulein Tenenbaum war eine von vielen schönen jungen Frauen des Sekretariats, an die der Älteste bestimmte
romantische Hoffnungen
knüpfte. Die beiden waren sogar ab und an zusammen gesehen worden. Doch dann fuhr der Älteste zu seinem vielberedeten Besuch nach Warschau, und Rywka Tenenbaum fiel unterdessen nichts Besseres ein, als sich Hals über Kopf in Bronowski, den jungen Kandidaten der Rechte, zu verlieben.
    Und damit nicht genug: Als der Präses des Gettos von seiner Reise zurückkehrte, bekannte sie nicht nur ihre amourösen Eskapaden. Sie wies auch die weiteren Offerten des Ältesten zurück, mit der Begründung, sie sei nicht die Frau, für die er sie halte, und sie sei absolut nicht
käuflich
.
    Der Älteste wurde angesichts dieses durchtriebenen Verrats derart wütend, dass er Dawid Gertler unverzüglich anwies, bei dem jungen Bronowski einen Hausbesuch vorzunehmen. Bei dieser Durchsuchung fand

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