Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
Gertler nicht weniger als 10   000 amerikanische Dollar, überall in Bronowskis zahllosen geheimen Schränken und Kommodenschubladen versteckt. Der junge Jurist, den der Älteste damit bedacht hatte, die Korruption im Getto zu bekämpfen, hatte sich also von allen als der Korrupteste erwiesen. Angesichts der Schwere des Verbrechens beschloss der Älteste, den Vorsitz bei den Verhandlungen selbst zu übernehmen, und als das Urteil fiel, lautete es auf sechs Monate Zuchthaus, gefolgt von der Deportation aus dem Getto wegen Diebstahls, Urkundenfälschung und Annahme von Bestechungsgeldern.
    Zwei Tage später erhängte sich die junge Rywka Tenenbaum an einer Rohrleitung hinter dem Gerichtssaal in der Gnieźnieńska, einem der wenigen Gettogebäude, das mit fließendem Wasser und einer Toilette mit Spülung ausgestattet war.
    *
    Von Seiten des Ältesten ging es nicht in erster Linie darum, bei den Frauen Anklang zu finden, sondern um Macht und Besitzrecht. Ebenso wie das Gericht und die Einkaufsbank
sein
Gericht und
seine
Einkaufsbank, jedes Kollektiv und jede Verteilungsstelle
sein
Kollektiv und
seine
|176| Verteilungsstelle waren, sollte auch jede Frau im Getto in erster Linie
seine
und die keines anderen sein.
    Erfahrene weibliche Angestellte seiner Kanzlei meinten dem Alten ansehen zu können, ob er in der Nacht »zum Zuge gekommen« war oder nicht. Es war seiner Stimmung abzulesen. Er konnte sanft wie eine Taube sein, wenn er seinen Willen bekommen hatte. Zugeknöpft, sarkastisch und
boshaft –
wenn er zurückgewiesen worden war. Manche glaubten sogar, seinen Gemütszustand nach dem Grad des Entgegenkommens voraussagen zu können, das die jeweilige Auserwählte ihm am jeweiligen Tag erwiesen hatte. Wohlwollen von Seiten des Ältesten erforderte stets, dass ihm zunächst eine Frau gefügig gewesen war. Wurde er andererseits abgewiesen, konnte niemand die Kraft und Stärke seines Wutausbruchs voraussehen.
    Sein Zorn war wie der dunkle Rand einer himmelhohen Gewitterwolke. Die Augen verengten sich, die Haut unter dem Kinn bebte; Speichel spritzte über die Lippen.
    Nur eine einzige Person, das sollte sich allmählich zeigen, war imstande, diesen Zorn zu zügeln.
    Nun erhebt sie sich an dem langen Tisch, auf Seiten der Verteidigung:
    Man muss verstehen
, sagt Regina Wajnberger zu dem Gericht, das sich zur Urteilsfindung im Fall Bronowski versammelt hat,
hier geht es natürlich nicht um Diebstahl oder Veruntreuung, sondern es handelt sich um ein klassisches
crime de passion
, so muss man es verstehen, so muss darüber geurteilt werden.
    Der Älteste starrt die junge Anwältin, die sich für Bronowski einsetzt, ungläubig an. Sie kann nicht viel älter sein als der Angeklagte selbst; obendrein ist sie so klein von Wuchs, dass es scheint, als müsste sie auf Zehenspitzen stehen, um zu ihrem eigenen Gesicht hochzureichen. Doch vor allem beruht sein Unglauben auf Folgendem: dass es jemand hier im Getto, an einem Ort, an dem nur Falschheit und Gier herrschen, wagt, das Recht der Liebe zu vertreten. Es ist wie ein Wunder. Mit einem einzigen Satz scheint diese erstaunliche Frau seinem ganzen Leben und Lebenswerk einen neuen Sinn zu geben.
     
    |177| Für Regina Wajnberger galt, was man über manche Menschen zu sagen pflegt: Sie hatte eine starke Seele, aber ein willenloses Herz. Sie wusste, wenn man es im Getto zu etwas bringen wollte, musste man den Allerhöchsten ins Visier nehmen, und schon vom ersten Augenblick an hatte sie die Hoffnung gehegt, den Alten umgarnen zu können. Doch Regina hatte auch einen Bruder, und dieser Bruder ließ sich nicht so leicht manipulieren. Benjamin, oder Benji, wie er genannt wurde, verkörperte wohl am ehesten ein
Gesetz eigenen Rechts
. Er richtete sich nach niemandem, am wenigsten nach seiner strebsamen Schwester; und sie reagierte darauf mit einer bedingungslosen Liebe, die sich mit keiner anderen Liebe der Welt messen ließ.
     
    Benji war hochgewachsen und dünn, mit dicker, vorzeitig ergrauter Haarmähne, die er sich mit langen knochigen Fingern ungeduldig aus dem Gesicht strich. Am häufigsten traf man ihn an irgendeiner Straßenecke an, wo er einer größeren oder kleineren Schar die Notwendigkeit erörterte, dass
gewisse Amtsträger des Gettos
für ihr Tun Verantwortung übernahmen und ausnahmsweise mal lebten, wie sie lehrten; dann fügte er mit verzücktem, beinahe boshaftem Blitzen im Augenwinkel hinzu:
    Und zu diesen Amtsträgern zähle ich von nun an auch meinen sogenannten

Weitere Kostenlose Bücher