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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Nachhinein an den leeren, seelenlosen Ausdruck im Gesicht des Ältesten erinnern und an die Tatsache, dass er, als er endlich den Mund aufmachte, die gesuchten Worte zunächst nicht herausbrachte. Hatte er erst zu diesem Zeitpunkt, als er mit Direktor Rubin im Büro die Namenslisten der Kinder durchgegangen war, im vollen Umfang erfasst, welches Schicksal die im Getto eingesperrten Juden erwartete? Nicht nur die Kinder, in erster Linie aber ging es ihm um diese, denn schließlich waren es
seine
Kinder. Von diesem Moment an war nicht mehr klar, zu wem er sprach, zu den halbschlafenden Kindern auf der Treppe oder dem übernächtigten Personal des Grünen Hauses. Doch
stammelte
er beim Sprechen. Das war noch nie zuvor passiert:
     
    Ich sage es euch nur einmal, und ich sage es jetzt, um den Ernst der entstandenen Situation ein für alle Mal zu erklären:
    Die Behörden, nach denen wir uns alle richten müssen, haben unwiderruflich festgelegt, dass jedermann im Getto zu arbeiten hat – auch Kinder und Jugendliche – und dass diejenigen, die nicht arbeiten, ohne Aufschub aus dem Getto verschickt werden.
    Ich sage es nicht gern – weil ich die Menschen nicht unnötig erschrecken will –, aber außerhalb der Gettogrenzen gibt es niemanden mehr, der für euch bürgen und euch oder anderen Juden Sicherheit garantieren kann. Nur im Getto, unter meinem Schutz, seid ihr sicher, weil ich mir ein für alle Mal das Vertrauen der Behörden erworben habe.
    Deshalb habe ich in Übereinstimmung mit Herrn Warszawski beschlossen, spezielle Lehrlingsstellen für alle Gettokinder im arbeitsfähigen Alter einzurichten. Auch diejenigen, die noch nicht die notwendige Gesundheitsuntersuchung durchlaufen haben, sind von nun an verpflichtet, eine Stelle als Zuschneider- oder Näherlehrling in den Getto-Schneiderwerkstätten anzutreten!
     
    |166| Bei diesen Worten entstand eine gewisse Unruhe unter den älteren Kindern auf der Treppe.
    Sollen wir weg?
, hörte man Deborah Żurawska von irgendwo hinter Werner Samstags Beinen rufen. Und darauf setzte ein vielstimmiges Gemurmel ein. Jetzt aber waren die Anzeichen bei dem Alten zweifelsfrei zu sehen, dieselben, die sie seit langem wiedererkannte: das Lächeln im Mundwinkel; der umherirrende Blick; die Hand, die in die Jackentasche fuhr und wieder heraus:
     
    Es geht hier um euer junges Leben, und ihr wagt es, euch zu widersetzen?
     
    Im Raum wurde es mucksmäuschenstill.
    Direktor Rubin trat einen Schritt näher an den Alten heran. Rumkowski reagierte darauf, indem er ihm entnervt die Listen aus der Hand riss.
     
    Hier fehlen Angaben zu mehreren Kindern, die darin verzeichnet sein sollten. Obendrein habe ich soeben mit eigenen Augen festgestellt, dass viele später hinzugekommene Kinder unter fehlerhaften oder gänzlich falschen Namen geführt werden … An dem Tag, an dem mich die Behörden bitten, ihnen mitzuteilen, welche Kinder unter meinem Schutz stehen, werdet ihr alle verurteilt sein! Kinder! Wenn Direktor Rubin jetzt eure Namen aufruft, seid ihr so gut, und macht, einer nach dem anderen, einen Schritt nach vorn und berichtet uns, wie ihr heißt und woher ihr kommt, und anschließend begebt ihr euch in die Küche, wo Doktor Zysman euch untersuchen wird.
     
    Warum diese Überprüfung prompt um drei Uhr in der Früh an einem eiskalten Wintermorgen stattfinden muss, fragt sich keiner. Alle wissen, es hätten bedeutend schlimmere Dinge passieren können, wenn die Besatzungsbehörden die Sache selbst in die Hand genommen hätten. Doch wie in einem solchen Fall kirecht ihnen etwas von demselben Unwirklichkeits- und Angstgefühl unter die Haut, als Direktor Rubin nun ungeschickt seine Brille auf der Nase zurechtrückt und laut und deutlich von der Liste vorliest:
     
    |167|
Rubin (liest):
Samstag, Werner. Geburtsort: Köln. Vater/Mutter – unbekannt.
    Judenältester:
Und was heißt dieses
unbekannt
?
    Rubin:
Samstag kam mit dem zweiten Transport. Begleitende Angehörige gab es nicht, und er hat auch später keine derartigen benennen können.
    Samstag:
Ich heiße nicht Samstag.
    Judenältester:
Hier steht nicht Samstag. Sie, Herr Rubin, haben dieses Samstag eingetragen. So ist es doch? Oder?
    Rubin:
Wir meinten, wir müssten ihm einen Nachnamen geben.
    Judenältester:
Blödsinn! Weiter!
    Rubin (liest):
Majerowicz, Kazimir. Geburtsort: Łódź. Vater/Mutter – unbekannt.
    Judenältester:
Ständig dieses
unbekannt
. Wie ist das nur möglich?
    Rubin:
Sie haben selbst angewiesen, dass Kinder,

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