Die Elenden von Lódz
die von ihren Eltern getrennt wurden, hierhergebracht werden sollen.
Judenältester:
Wie alt sind Sie, Herr Majerowicz?
Kazimir:
Ich bin fünfzehn, werde sechzehn, danke der Nachfrage, Herr Präses.
Judenältester
: Hier steht, dass Sie am 12. Januar 1926 geboren sind.
Rubin:
Wie bitte?
Judenältester:
Da können Sie nicht fünfzehn sein.
Rubin:
Es muss sich um ein Versehen handeln, Herr Präses, eine Ausnahme.
Judenältester:
Nun gut, weiter.
Rubin (liest):
Szygorska, Mirjam. Vater/Mutter -
Judenältester
:
Lassen Sie mich raten.
Unbekannt
.
Rubin:
Woher wussten Sie?
Judenältester:
Hören Sie, Herr Rubin. Wissen Sie, wie viele Leben mich Ihr nahezu haarsträubender Mangel an Genauigkeit in diesen Tagen kosten kann?
Rubin:
Nein, Herr Präses.
Judenältester:
Würde das junge Fräulein Szygorska so freundlich sein und vortreten …?
|168| Mirjam machte einen Schritt nach vorn. Da sie noch immer das Album mit den illustrierten Talmudversen in der Hand hielt, unternahm sie erneut einen Versuch, es dem Herrn Präses zu überreichen. Diesmal nahm er, offenbar konsterniert, das Geschenk entgegen. Stand dann nur da und starrte das Mädchen an, während das Lächeln in seinem Mundwinkel immer deutlicher hervortrat:
Judenältester:
Und wie alt ist also das junge Fräulein Szygorska?
Rubin (ängstlich):
Das junge Fräulein Szygorska kann nicht reden, Herr Rumkowski.
Judenältester:
Ob nun redegewandt oder nicht, könnte Fräulein Szygorska vielleicht dennoch so freundlich sein und selbst antworten.
Rubin:
Fräulein Szygorska ist elf Jahre alt, Herr Präses.
Judenältester:
Für elf Jahre sieht sie groß aus. Oder ist das hier ein erneuter Versuch, sich vor meinem Lehrlingsdienst zu drücken?
Rubin:
Das junge Fräulein Szygorska verfügt leider nicht über die Gabe des Sprechens, Herr Rumkowski.
Judenältester:
Verfügt nicht über die Gabe des Sprechens? Mir scheint, als wäre die Natur sonst mehr als freigebig gegenüber dem jungen Fräulein Szygorska gewesen.
Darauf packt er Mirjam am Arm und schleppt sie brüsk mit ins Büro. In der Tür dreht er sich um und bedeutet Chaja mit aufforderndem Winken, eine der Waschschüsseln und ein Handtuch hereinzubringen, wartet ungeduldig in der Tür, bis sie mit dem Gewünschten zur Stelle ist; zieht darauf die Tür zu und schließt hinter sich ab.
Eine geraume Zeit stehen alle nur da – erschrocken, überrumpelt – und starren auf die geschlossene Tür. Nach einer Weile hört man schwache Geräusche herausdringen. Stuhlbeine scharren über den Boden; etwas Schweres schlägt gegen die Wand und rollt dann langsam über die Dielen. Mehrmals hintereinander wiederholt sich dieses Schlagen und Krachen. Dann ist die Stimme des Judenältesten zu hören, dumpf und gereizt. Und darüber in hellem Diskant – Mirjams. Sie hat also doch eine Stimme! Es klingt, als wollte sie laut und eindringlich etwas sagen, doch würden die Worte durch etwas oder jemanden gehindert, |169| ihren Weg zu finden. Erneutes Scharren von Stuhlbeinen und wieder klingt es, als schlüge etwas Schweres auf den Boden oder würde umgekippt.
Dann wird es still. Entsetzlich still.
Deborah kann die Lähmung als Erste abschütteln. Sie rennt zurück ins Rosa Zimmer und schlägt, hämmert auf die Tasten des Klaviers ein. Allmählich nimmt der Rhythmus Gestalt an, und die Klaviatur biegt sich unter den Tönen des alten jüdischen Protestgesangs, den die junge Theatergruppe des Grünen Hauses bereits vorgetragen hatte:
Zeschlogn, zeharget ales
zeworfn, jedes basunder
Fun chasanim – kales
Fun muters – klejne kinder
Schrajt, kinder, schrajt arojf.
Schrajt hecher ahin dort;
Wekt ir dem tatn ojf.
Wos schloft er klojmerscht dort?
Far dir herzu wejnen, klogn
Kinder fun der wig
Saj betn doch, du solst sej sogn:
Oj, es sol schojn sajn genug!
5
Kazimir unterstreicht den Takt mit harten Trommelschlägen. Im Zimmer jagen die jüngeren Kinder in immer wilderem Tanz umher. Natasza Maliniak presst die Hände an die Ohren und schreit, während Liba und Sara aufs Klavier klettern und von oben versuchen, Deborahs Hände |170| zu ergreifen, so als stünden sie am Rand eines Brunnens und versuchten Schmetterlinge zu fangen.
Rosa ruft sich ins Gedächtnis, dass Chaja in einer der Küchenschubladen Ersatzschlüssel für das Büro liegen hat. Als sie mit dem Schlüssel in der Hand zurückkehrt, sieht sie Werner Samstag ausgestreckt vor der Bürotür liegen. Er hat seine Hose aufgeknöpft und
Weitere Kostenlose Bücher