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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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der Privilegierten hatte Arnošt Schulz als fremder Jude, der er war, noch ein ganzes Stück Weg zurückzulegen.
    Doch arbeitete er Tag um Tag emsig daran, schließlich dorthin zu gelangen.
    Gemeinsam mit einem Doktor Wieneger aus Berlin, mit dem er vor dem Krieg eine gewisse wissenschaftliche Korrespondenz geführt hatte, entwickelte Doktor Schulz im Frühjahr 1942 eine Technik zur Herstellung einer speziellen Salz- und Zuckerlösung, die subkutan verabreicht werden konnte und auf einem Sud aus Kartoffelschalen basierte, die bei den Fabriksuppenküchen übrigblieben.
    Kartoffelschalen –
schobechts
– waren eine begehrte Ware im Getto; die Schalen konnten »dick« oder »dünn« sein und wurden in Zwei- oder Fünfkilosäcken an alle verkauft, die Kontakte zur Verwaltung hatten, und diese Personen wussten natürlich genau, was zu tun war, um auf dem Schwarzmarkt das Fünffache für die Säcke zu erzielen. Der Handel mit Kartoffelschalen war am Ende derart umfangreich geworden, dass der Älteste verlangt hatte, sie ebenso wie Milch und andere Molkereiprodukte rezeptpflichtig zu machen. Auf diese Weise hatten die Ärzte Schulz und Wieneger die Schalen ergattert. Sie hatten sich kurzerhand gegenseitig Rezepte ausgeschrieben.
    Und so kam es, dass der Älteste des Gettos endlich von dem untersetzten, offenbar aber gescheiten Arzt aus Prag Notiz nahm. In einer Rede vor der Getto-Verwaltungsabteilung im Februar 1942 erwähnte Rumkowski insbesondere
die geniale Innovation des Prager Arztes Schulz auf der Basis von Abfallprodukten aus den Suppenküchen
, die ein Vorbild dafür war, wie akute Probleme des Gettos gelöst werden konnten, wenn |185| man nur erfinderisch genug war und eine Methode entwickelte, um die eigenen Ressourcen des Gettos neu zu verwerten.
    *
    Doch war das mit den Kartoffelschalen um Mamans willen geschehen.
    Allmorgendlich, bevor er ins Krankenhaus ging, hängte er seine eigenhändig komponierte Infusionslösung in einen Tropfständer, den Martin aus alten Kleiderbügeln hatte fertigen lassen, und befestigte den Schlauch mit der Tropfkammer an einer Kanüle an Mamans rechtem Handgelenk.
    Auf diese Weise wurde ihr die Nährlösung intravenös verabreicht.
    In ihrem Tagebuch schreibt Věra, dass der Körper der Mutter von einem seltsamen Fieber geschüttelt wurde und dass aus den Poren der Haut starker übelriechender Schweiß drang und ihr Gesicht rot anschwoll. Trotz der Nebenwirkungen schien Maman ein wenig von ihrer früheren Kraft und Impulsivität zurückzuerlangen. In diesen Momenten war sie steif und fest davon überzeugt, dass sie ihre alte Wohnung in der Mánesova nie verlassen hatte. Zu Věra sagte sie eines Abends, sie habe den Verdacht, dass sich in ihren Räumen tschechische Faschisten versteckt hielten und dass sie nachts, wenn die ganze Familie schlief, an Věras Reiseschreibmaschine saßen und geheime Depeschen nach Berlin schickten.
    Bevor sie Prag verlassen hatten, war eben um diese Schreibmaschine zwischen Mutter und Tochter Streit entbrannt. Věra hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen, weil sie wusste, dass sie sich früher oder später nach einer Arbeit umsehen musste; Maman jedoch hatte sich dem widersetzt.
    Ist die Person nicht ganz bei Trost; das Schreibungetüm wiegt doch mindestens fünfzehn Kilo!
    War das nun Mamans subtiler Versuch, es ihr heimzuzahlen, weil sie hatte nachgeben müssen?
    Doch als Věra mit Maman in der Kammer saß, konnte auch sie deutlich das Klicken der kleinen Schreibmaschinentypen hören, die gegen die schmale Walze schlugen. Sie schaute zur Decke empor und |186| sah, dass sich ein Klumpen Kakerlaken – groß wie ein Wespennest – an der Halterung der Lüftungsklappe festklammerte, von dem die Tiere ihre harten Körper einen nach dem anderen zu Boden fallen ließen,
klick, klick, klick
: Es klang exakt so, als träfen Schreibmaschentypen auf die Walze.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten die Behörden den Verdunkelungszwang eingeführt.
    Allabendlich stiegen Martin oder Josel hinauf und setzten ein Stück Blech vor die Fenster der Küche, damit kein Licht nach draußen sickerte.
    Die Luke in Mamans Kammer wagten die Kinder jedoch nicht zu verdecken, trotz des Ungeziefers, das so den Weg ins Haus fand. Wenn die Tür geschlossen war, fiel allein durch die Öffnung der Luke Licht in die Kammer.
    Da saßen sie nun alle zusammen in ihrer schmutzigen, ungeheizten Küche in einer fremden polnischen Stadt und lauschten dem fernen Geräusch, das Josel zufolge von den

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