Die Elenden von Lódz
ihren Brüdern von Maman.
Über Maman zu reden
ersetzte das Reden über den Hunger. So wurde es am Ende zur einzigen Methode, den Schmerz des eigenen Körpers zu betäuben: ununterbrochen von jemandem zu reden oder an denjenigen zu denken, der noch schlimmer hungerte und litt.
Kraftlos, schmerzgeplagt, hungernd schleppte sich Věra zusammen mit Tausenden anderer Arbeiter tagtäglich die tiefen schmutzigen Furchen entlang, die sich in den Schneemassen auf der Straße gebildet hatten.
Die Teppichweberei, bei der sie eine Anstellung als »polnische« Sekretärin bekommen hatte, lag in einer Seitenstraße der Jakuba. Vor der Abriegelung des Gettos musste sich ein Milchladen oder etwas Ähnliches im selben Haus befunden haben, denn der Abdruck der Schriftzeichen war noch immer in dem grauen Putz zu erkennen (auch wenn das Schild längst abmontiert war):
Mleko
stand da mit leicht schrägen |189| Schattenbuchstaben über drei tiefen Ladenfenstern, deren Außenscheiben zerschlagen waren, die Innenseiten aber hatte man dennoch sorgfältig mit Verdunkelungspapier abgedeckt.
Es war ein geringer Trost in all der Trübsal, dass ihre Fähigkeiten als Maschineschreiberin dennoch zupass kamen. Statt dass sie an den Webstühlen sitzen musste, hatte man ihr eine kleine Kammer oder richtiger einen Verschlag neben Direktor Moszkowskis Zimmer zugewiesen, in dem sie von früh bis spät lange Materiallisten und Rechnungen an das
Zentrale Arbeits-Ressort
tippte, die Herr Moszkowski dann am Ende des Arbeitstages unterzeichnete.
Nicht weiter als eine halbe Armlänge vom offenen Büro entfernt standen drei Webstühle, deren Webketten sich bis zur Decke erstreckten; und auf niedrigen Holzbänken saßen Teppichweber und Teppichweberinnen, Reihe um Reihe, Männer und Frauen, paarweise oder in Vierergruppen. Gross hieß der Vorarbeiter; gleich einem Sklaventreiber auf einer römischen Galeere ging er durch den Saal und gab den Takt an, indem er mit einem Holzknüppel gegen die Rahmen schlug, und
immer rund, rund, rund
um den jagenden Stock fuhren die Hände der Weberinnen, führten das Schiffchen mit dem Faden durch die Kettfäden oder bewegten die Tritte mit den Füßen; der Schaftwechsel knallte, nun wurde der Schussfaden zurückgesandt, die Weberlade klapperte.
Schicken, fassen, treten.
Die Luft war schwer und voll von Flusen. Wirbelnder feuchter Staub, der sich wie ein erstickender Wollstrumpf im Hals festsetzte, den Schlund anschwellen ließ und Nasen- und Gehörgänge verstopfte.
Obgleich Věra hinter einer schützenden Trennwand saß, wagte sie kaum zu atmen vor Furcht, sich noch mehr von dem feuchten schmutzigen Teppichstaub in die Lungen zu ziehen. Wie mussten es dann erst die Arbeiter empfinden? Arbeiter im Getto galten indes nichts oder nichts über die Handgriffe hinaus, die sie auszuführen hatten: jagende Hände und Füße, die zehn Stunden am Tag traten und stampften, als ob alles im Leben davon abhinge, dass sie den Takt in jenem mörderischen Tempo hielten, das unter normalen Umständen kein Mensch bewältigt hätte.
|190| Um zwölf Uhr mittags wurde an der Ausgabestelle bei der Schneiderwerkstatt in der Jakuba Mittagessen serviert. Die Ausgabestelle war keine Ausgabe im eigentlichen Sinne, sondern nur ein Fenster einer normalen Mietwohnung im Erdgeschoss. Hinter dem Fenster war eine kaum sichtbare Hand damit beschäftigt, in die ihr entgegengestreckten Gefäße und Essensnäpfe Suppe zu füllen.
Zwei Schöpflöffel bekamen die Vertrauenswürdigen, das heißt jene, die die hinter der Ausgabe tätige Mamsell kannte oder mit denen sie in irgendeiner Weise vertraut geworden war. Eine Kelle bekamen all die anderen – einschließlich Věra. Darüber hinaus erhielt sie gegen Vorlage eines Mittagstalons auch eine Scheibe trockenes dunkles Brot ohne Margarine. Sie mussten stets warten, bis die Reihe an ihnen war. Die Arbeiter der Uniformschneiderei aus der Jakuba 12 wurden bevorzugt. Sie hatten Vortritt zur Suppe, weil sie für die deutsche Wehrmacht nähten.
Dort beim Anstehen in der Schlange, als Věra darauf wartete, dass
pani Wydzielaczka
mit der Kelle auch ihren Suppentopf erreichte, wurde sie zum ersten Mal der vonstattengehenden Deportationen gewahr. Zunächst hatte eine der Frauen aus der Weberei, die »sie verlassen« sollte, alle überrascht, als sie feierlich zwischen den Beschäftigten umherging und jedem zum Abschied die Hand gab, und Herr Moszkowski, der Vorarbeiter Herr Gross und die beiden
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