Die Elenden von Lódz
Gemahlin nicht weniger als sechshundert Gratulationstelegramme, abgesandt aus allen erdenklichen Richtungen des Gettos, und vor dem Eingang des Spitals, in dem der Präses zu dieser Zeit seine »Stadtwohnung« hatte, standen Hunderte
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Schlange, Verwaltungschefs, Vertreter des Ordnungsdienstes und der Feuerwehr, um höchstpersönlich ihre Geschenke zu überreichen, |182| ohne die sie natürlich nicht zu kommen wagten. Auch Prinzessin Helena und ihre Entourage hatten es für angebracht gehalten, den Widerstand aufzugeben und die Seite zu wechseln, standen jetzt lächelnd an der Tür und empfingen die Gäste, Prinzessin Helenas eigener Verwalter, Herr Tausendgeld, eingeschlossen, der es höchstpersönlich übernommen hatte, einen
Gabentisch
herzurichten, auf dem sich nun Geschenke und Glückwunschtelegramme stapelten.
Auch Benji war anwesend. Er ging blass und ernst durch die Reihen und bat einen jeden, ein Stück Brot zu spenden und einen Schluck aus seinem Weinglas in ein Gefäß zu gießen, das er an die Brust gepresst hielt. Als das Gefäß voll war, ging er auf den Hof hinaus, wo sich trotz des eiskalten Windes eine Schar Neugieriger versammelt hatte, um das Ereignis aus der Ferne mitzuerleben. Vom Fenster aus konnten die Hochzeitsgäste sehen, wie der Bruder der Braut in zu kurzer, um die Knöchel flatternder Anzughose an die Armen des Gettos Brot austeilte und Wein ausschenkte.
Und wer genug Verstand hatte, sich zu schämen, der schämte sich.
Die Übrigen tanzten zu verbotener Grammophonmusik.
Regina aber schämte sich nicht. Sie war physisch nicht fähig, sich für ihren Bruder zu schämen.
Zu seiner Gattin sagte der Älteste später, dass er für Benji einen besonderen Platz im »Sanatorium« in der Wesoła reserviert habe. Vielleicht würde ein zeitweiliger Aufenthalt in einem Erholungsheim ihn beruhigen, so dass er endlich zufrieden war. Regina fragte ihren Mann, ob sie sich auf sein Versprechen verlassen könne. Er gab zur Antwort, wenn so wenig erforderlich wäre, um seine geliebte Frau glücklich zu machen, dann sei das wahrhaftig das mindeste, was er tun könne.
|183| Nach sechs Monaten im Kollektiv in der Franciskańska war Familie Schulz endlich eine eigene Bleibe zugewiesen worden. Sie lag ein paar Häuserblöcke von der Sulzfelderstraße oder Brzezińska, wie der polnische Straßenname lautete, entfernt. In den beiden Zimmern der Wohnung lebten bereits zwei Familien. Im Zimmer zum Hof ein junges Arbeiterpaar mit einer kleinen Tochter mit langen Zöpfen, die Emelie hieß, und wenn man ihr im Flur begegnete, sagte sie kein Wort oder schaute nicht einmal auf; und im größeren Zimmer zur Straße ein Farbenhändler Riemer mit Frau, der ebenfalls aus Prag gekommen war.
Auf Anraten von Doktor Schulz lösten sie das Problem so, dass er selbst und die Söhne Martin und Josel bei Riemers schliefen, während Věra und ihre Mutter in die Küche einzogen.
Von der Küche ging noch eine kleine Kammer ab, die früher als Speisekammer, möglicherweise auch als Kleiderkammer diente. Zu dieser Kammer führten zwei Türen: die von der Küche aus war so niedrig, dass man sich bücken musste, um in den Raum zu gelangen, und die vom Flur war schmal und sah aus wie jede gewöhnliche Kammertür.
Dicht unter der Decke des kleinen Kabuffs befand sich eine Lüftungsklappe, die mit Hilfe einer Stange geöffnet wurde, die an der Wand festgehakt war. Solange die Luke offen stand, konnte man beide Türen geschlossen halten, ohne dass es in der Kammer dunkel wurde.
In diesem engen Raum nahm Maman Quartier. Věra trug ihr jeden Tag Essen auf einem Tablett hinein, und auch ein Eimer mit Wasser wurde ihr gebracht und eine Emailleschüssel, die sie als Nachttopf benutzen konnte. Dort drinnen war es so eng, dass Maman mit hochgezogenen Beinen, den Rücken an die Wand gelehnt, dasitzen musste, wenn sie bei geschlossener Tür schlafen wollte.
|184| Und Maman saß in ihrer Kammer. Sie aß sehr wenig; bald aß sie gar nichts mehr, wenn Věra oder Martin ihr das Essen nicht in den Mund stopften und sie zum Schlucken zwangen.
Arnošt versuchte seine Verbindungen spielen zu lassen, um Maman im Krankenhaus unterzubringen, zunächst in dem in der Łagiewnicka, dann in der »Spezialklinik« in der Wesoła; sah sich dann jedoch gezwungen, seine Bemühungen aufzugeben. In einem Getto, in dem jeder mehr oder weniger krank war, kam ein Spitalaufenthalt nur für
privilischerte
in Frage, und bis in die auserkorene Schar
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