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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Uniformierten der Getto-Wirtschaftspolizei, die man hier postiert hatte, um sicherzugehen, dass
nichts gestohlen wurde
, blickten allesamt zur Seite oder zu Boden, schamrot im Gesicht. Zu wissen, dass man seine Arbeit und seine Wohnung im Getto gleichsam nur
aus Barmherzigkeit
hatte, war eine Sache; den Beweis vor Augen geführt zu bekommen, war etwas ganz anderes.
    Am Tag darauf war auch das polnische Arbeiterpaar, das im Zimmer nebenan gewohnt hatte, verschwunden. Als Věra an einem Februarabend aus Herrn Moszkowskis Ressort heimkehrte, stand eine ganz andere Familie im Korridor, allerdings mit einer fast ebensolchen Tochter: auch sie trug Zöpfe und hielt den Blick gesenkt. Věra hätte das Kind fragen wollen, ob es wüsste, was mit dem Mädchen Emelie passiert war, so als könnte die Tatsache, dass sich die beiden aufs Haar glichen, das Mädchen etwas über die andere wissen lassen.
    |191| Wie aber sollte überhaupt jemand wissen können, was tatsächlich geschah? In Zeiten wie diesen kümmerte sich niemand um mehr, als dass die eigene Suppenschüssel gefüllt wurde, am besten mit
zwei
Kellen; und dass die dünne Brotscheibe, die man zum Verzehr bekam, zumindest eine Stunde vorhielt oder auch zwei, ehe die fürchterlichen Hungerkrämpfe aufs Neue einsetzten.
     
    Es gab Abende, an denen sich Věra kaum zu rühren vermochte, an denen ihr Tassen und Teller entglitten, als wären ihre Hände nichts anderes als zwei kraftlose
Dinge
.
    Martin und Josel halfen ihr, den Fußboden der Küche zu scheuern, der ihr stets von Schmutz überwuchert schien. Gemeinsam wuschen sie die Kleidung und hängten sie auf.
    Dennoch wurde sie die Schmerzen nicht los. Es war, als hätte sich in ihren Gelenken ein eisiges Taubheitsgefühl festgebissen, das jeden Knochen zum Aufbäumen und Krümmen brachte. In den Nächten war ihr, als ob sich ihr Skelett in Eis verwandelte; ein
Schmerzkörper
in dem, was vom eigenen Körper übrig war, der ihre Gedanken dorthin wandern ließ, wohin sie aus freien Stücken nie gegangen wären: nach Marysin, wo sich Emelie, ihre Familie und Tausende anderer Gettobewohner durch den Schnee schleppten, ihre notdürftig gepackten Bündel und Säcke auf dem Rücken oder um die Taille geknotet.
    Unterwegs wohin? Niemand wusste es.

 
    |192| Und die Aussiedlungsaktion ging weiter.
    Im Februar war der Judenälteste zu einer erneuten Zusammenkunft mit den Behörden gerufen worden und hatte Bescheid erhalten, dass die Zeit des Aufschubs vorüber sei und weitere zehntausend Juden das Getto verlassen müssten.
    Seine Aussiedlungskommission arbeitete jetzt rund um die Uhr mit den Listen. Es gelang ihr, zehn, elf Transporte im Februar zusammenzustellen, doch reichte das für die geforderte Quote nicht aus. Entsprechend der Angabe an die deutsche Gettoverwaltung verließen im Laufe des Februar »lediglich« 7025 Juden statt der übereingekommenen Zahl von 10   000 das Getto.
    Die Behörden äußerten ihr großes Missfallen über diese Saumseligkeit und reagierten, indem sie das von der Februarquote noch Ausstehende auf die des März aufschlugen, so dass der Älteste zum 1. April die zusätzliche Anweisung erhielt, neben den
normal
geforderten 10   000 Juden drei Extratransporte von knapp 3000 zusammenzustellen.
    Die Unzufriedenheit der Behörden kam noch auf andere Weise zum Ausdruck:
    Von Radogoszcz traf die alarmierende Nachricht ein, dass den Deportierten vor Besteigen der Züge das Gepäck abgenommen worden war. Diejenigen, die dem Befehl nicht unmittelbar Folge leisteten, wurden von den deutschen Wachsoldaten blutig geschlagen und dann mit Gewalt in die Wagen getrieben.
    War denn all das mit der genau geregelten Menge ausschließlich Tarnung, ein Trick, der die Leute dazu bringen sollte, sich aus freien Stücken zu den Sammelstellen zu begeben?
    Die Deportationen im Februar und März 1942 trafen überdies mit einigen der schlimmsten Frosttage zusammen, die das Getto je erlebt hatte. In den Sammelstellen platzten Ofen- und Schornsteinrohre in |193| der Kälte, und die Leute mussten, nur in ihren Kleidern, auf dem Fußboden schlafen. In der zweiten Märzwoche kam ein heftiges Unwetter über das nordöstliche Europa hereingezogen, mit peitschendem Schneetreiben und eisigen Temperaturen. In dieser Woche erfroren neun Menschen in einem ehemaligen Schulzimmer in der Młynarska, als sie auf einen Zug warteten, der niemals kam. Dieselben offenen Lastwagen, die seit Beginn der Aktion das Gepäck der Deportierten, das sie

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