Die Elenden von Lódz
dass der Älteste die Sache bereits
akzeptiert habe
und dass sein Fernbleiben vom Büro einfach damit zu erklären war, dass er es vorzog, Pläne und Richtlinien im Schutz seines eigenen Zuhauses zu erarbeiten.
Doch diesen Eindruck hatte er selbst nicht gewonnen, als er am Bałucki Rynek eingetroffen war und eine Delegation seiner eigenen Angestellten vor den Bürobaracken vorgefunden hatte. Ihr Starren hatte ihm vielmehr das Gefühl vermittelt, dass er zur Zielscheibe ihres Spottes geworden war, so als stünde er, bisher die höchste Autorität des Gettos, nun am Pranger, so dass sich jedermann über ihn lustig machen konnte:
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Aber Herr Präses – WISSEN SIE ETWA NICHT, WAS PASSIERT IST?
Das Kind wirft den Deckel – er aber kommt mit seinem Stein nicht hinterher.
Der weißglänzende Deckel fährt wie ein Blitz durch die Luft und ist verschwunden. Mit keinem Stein der Welt hätte er ihn einholen können.
Er sollte Zorn darüber empfinden, dass die Kräfte in diesem Kampf so offensichtlich zu seinem Nachteil gewichtet waren. Alles sollte eigentlich für ihn sprechen: die Schwere des Steines, seine überlegenen körperlichen Kräfte, die Tatsache, dass er um so vieles älter, weiser und erfahrener war als der Junge, der er einmal gewesen ist. Er sollte ihn einholen können,
dennoch erreichte er ihn nicht.
Und was übrigbleibt, ist Scham. Über die Tatsache, dass er, der sich so viel Macht verschafft hat, dennoch so grenzenlos wenig vermag.
*
Als er endlich beim Krankenhaus in der Wesoła ankommt, ist es bereits nach acht Uhr morgens, und die verzweifelten Angehörigen, die sich vor der Absperrung zusammengefunden haben, stürzen sich auf ihn, so als wäre er ihre einzige Rettung.
Endlich
, schreit die Menge, oder gibt sich zumindest den Anschein zu schreien:
Endlich kommt der Mann, der uns von dieser Geißel befreien wird …!
Am Haupteingang des Spitals steht SS-Hauptscharführer Konrad Mühlhaus und überwacht die Abschiebung aller kranken und verwirrten Patienten, die Rozenblats Leute nun aus dem Krankenhausgebäude vor sich hertreiben. Hauptscharführer Mühlhaus zählt zu jenen Männern, die meinen, ständig in Bewegung sein zu müssen, damit anderen keine Zeit bleibt festzustellen, wie klein von Wuchs er ist.
Unablässig stapft er im Kreis, immer auf derselben Stelle, und bellt Befehle wie:
Rauf auf die Wagen! Schnell, schnell, nicht stehen bleiben!
|240| Da der Älteste die Erwartung an sich spürt, etwas zu tun, umfasst er seinen Stock noch fester und geht direkt auf den untersetzten Mühlhaus zu:
Judenältester:
Was geschieht hier?
Mühlhaus:
Ich habe die Anweisung, keinen vorbeizulassen.
Judenältester:
Ich bin Rumkowski.
Mühlhaus:
Von mir aus können Sie Hermann Göring sein. Sie werden trotzdem nicht durchgelassen.
Dann ist Mühlhaus wieder weg; er hat keinen Nerv, hier mit einem Juden herumzudiskutieren, egal, wer er ist oder wie er sich nennen mag.
Und der Älteste bleibt allein zurück. Einen kurzen Augenblick wirkt er ebenso verloren und kraftlos wie die armen, gebrochenen Männer und Frauen, die vom Krankenhauseingang zu den Ladeflächen der Lastwagen und Anhänger getragen oder geführt werden. Dennoch gehört er nicht zu ihnen. Das lässt sich deutlich erkennen: Um ihn entsteht gleichsam eine Leere. Nicht nur die deutschen Uniformierten, auch Rozenblats Männer weichen vor ihm zurück, als hätte er die Pest.
Auf der Ladefläche des Anhängers beim Hauptgebäude stehen dichtgedrängt fast hundert ältere Frauen, mehrere von ihnen halbnackt oder in ausgeblichener, zerrissener Patientenkleidung.
Er meint eine von Reginas Tanten zu erkennen, die sie sonntags regelmäßig besucht haben. Er ist sich nicht sicher, welches der beiden Fräuleins es ist, doch ist ihm vage in Erinnerung, vor ihr geprahlt zu haben, sie würden zusammen die Straßenbahn nach Paris nehmen, und dass sie hinter ihren knochigen Fingern entzückt gekichert hat: Aber Chaim, das kannst du mir dann doch nicht weismachen …! Nichts hat sie am Leib als ihr graues Haupthaar und ihre erschrockenen weißen Augen. Quer durch den Lärm und das Gedränge, das sie beide trennt, ruft sie ihm etwas zu und winkt mit dünnen Streichholzarmen, oder will sie mit ihrem Rufen einen anderen erreichen? Er ist sich nicht sicher, und er schafft es auch nicht, sicher zu werden. Der Uniformierte, der soeben die letzte Ladung Patienten auf den Wagen geschleudert |241| hat, hört sie dicht neben sich
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