Die Elfen
Nuramon, der noch immer bei der Flügeltür stand. »Wo bist du?«
Der Heiler trat hinter einer Säule hervor. Er wirkte ungewöhnlich ruhig, ja fast entrückt. »Du hättest mich ihnen überlassen sollen. Nach dem Blutbad auf dem Tempelplatz werden sie erst ruhen, wenn wir alle tot sind.«
»Kann es sein, dass du deinen Tod herbeisehnst?«, fragte Farodin aufgebracht.
»Hat man nicht auch euch geschickt, um mich zu töten? Welchen Sinn macht es, darum zu kämpfen, wem das Vorrecht zukommt, mein Henker zu sein?«
Farodin machte eine wegwerfende Geste. »Wer im Kampf über den Tod sinniert, den wird das Leben verlassen. Mach dich lieber nützlich. Bring uns zum Hinterausgang. Vielleicht können wir dort unbemerkt hinausschlüpfen.«
Guillaume breitete hilflos die Hände aus. »Dies ist ein Tempel und keine Festung. Es gibt keinen Hinterausgang, keine verborgenen Tunnel oder Geheimtüren.«
Farodin sah sich ungläubig um. Neben dem Portal strebte eine Wendeltreppe hinauf zu den beiden Galerien. Dicht unter dem Dachgebälk war das Mauerwerk von hohen Bogenfenstern aus buntem Glas durchbrochen. Sie zeigten Bilder von Priestern in den nachtblauen Kutten des Tjuredkultes. Verwirrt betrachtete der Elf die Fenster. Eines der Glasbilder zeigte einen Priester, der in einen Kessel auf einem Feuer gestürzt wurde. Auf einem anderen Bild hackte man einem Priester Arme und Beine ab, auf einem dritten wurde ein Mann in nachtblauer Kutte von Wilden in Tierhäuten auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Fast alle Glasfenster zeigten solche Mordszenen. Jetzt verstand Farodin, warum Guillaume so gelassen blieb. Ein schreckliches Ende zu nehmen war offenbar die höchste Erfüllung eines Tjuredpriesters.
Ein Donnerschlag riss den Elfen aus seinen Gedanken. Feiner Staub rieselte aus den Ritzen des Tempelportals. Ein weiterer Donnerschlag folgte. Die schweren Torflügel knirschten in ihren Angeln. Farodin fluchte leise. Offensichtlich hatten die Wachen des Königs etwas gefunden, was sich als Rammbock verwenden ließ.
»Hört auf zu beten und tut etwas Nützliches«, herrschte der Elf die beiden Priester an, die vor dem Menhir knieten. »Holt alle Öllämpchen aus den Nischen. Nuramon, sieh dich um, ob du eine Fackel findest. Und dann macht, dass ihr auf die oberste Galerie kommt. Ich werde euch aus dieser Falle wieder herausbringen.«
Knirschend riss eines der dicken Eichenbretter des Portals. Lange würde das Tor nicht mehr halten.
Unbarmherzig trieb Farodin die Priester zur Eile an. Während sie die Wendeltreppe hinaufstiegen, mussten sie ihre langen Kutten wie Frauenröcke raffen, um nicht zu stolpern. Von der zweiten Galerie aus konnte man die Fenster des Tempels erreichen. Wegen der Stärke der Tempelmauern lagen sie in tiefen Nischen. Wenn er die Arme ausstreckte, konnte Farodin gerade bis zur Unterkante der Fensternische greifen. Mit einem Ruck zog er sich hoch und stand vor dem Glasbild eines Priesters, dessen zerschmetterte Gliedmaßen durch die Speichen eines Rades geflochten wurden. Die Gesichter der Folterknechte wirkten maskenhaft; auch hatte der Künstler nicht bedacht, wie die Farben des bunten Glases mit dem Morgenlicht harmonieren würden. Es war ein minderwertiges Kunstwerk, wie es selbst ein Unbegabter in ein bis zwei Jahren halbwegs ehrgeiziger Arbeit erschaffen konnte. Einem Vergleich mit den Glasfenstern in Emerelles Burg, die aus tausenden Glasfragmenten zusammengefügt waren, konnte dieses Machwerk nicht standhalten. An jenen Fenstern hatten die begabtesten Künstler Albenmarks Jahrzehnte gearbeitet, um ein vollkommenes Wechselspiel von Licht und Glas zu jeder Tagesstunde zu erreichen.
Farodin zog sein Schwert und schlug dem gläsernen Priester in sein schmerzverzerrtes Antlitz. Klirrend zerbrachen die Scheiben. Mit wenigen Hieben entfernte der Elf die Bleifassungen der Glasfragmente, sodass man durch die Fensternische treten und die Angreifer auf dem Tempelplatz beobachten konnte.
Auf der Galerie hörte Farodin die Priester lamentieren. Deutlich war die Stimme Guillaumes zu vernehmen. »Bei Tjured, er hat ein Bildnis des heiligen Romuald zerstört. Wir sind verloren!«
Farodin trat ein Stück in die Nische zurück, damit man ihn vom Platz aus nicht entdecken konnte. Der Tempelturm war von einem hölzernen Gerüst umgeben. Kaum mehr als einen Schritt unterhalb des Fensters lag eine schmale Plattform für die Steinmetzen, die an der Fassade arbeiteten. Von dort konnte man weiter über das Gerüst klettern.
Weitere Kostenlose Bücher