Die Elfen
Misstrauisch musterte Farodin die hölzernen Pfeiler und Streben. Alles erschien ihm unfertig.
Seitlich des Tempelturms lag ein Pilgerhaus. Seine Fassade war durch Nischen untergliedert, in denen Statuen von Heiligen standen. Es war prächtiger geschmückt als der Turm, in dem die Menschen zu ihrem Gott Tjured beteten. Mit etwas Wagemut konnte man vom Gerüst auf das Dach springen. Von dort mochte man auf andere Dächer gelangen und den Häschern des Königs entkommen.
Farodin kletterte durch das Fenster zurück. Die Priester erwarteten ihn mit verschlossenen Mienen. Hilflos zuckte Nuramon mit den Schultern. »Ich verstehe sie nicht.«
»Was ist daran so schwer zu verstehen?«, fragte ein junger rothaariger Priester. »Ihr habt ein Bildnis des heiligen Romuald zerstört. Er war ein jähzorniger Mann, der erst spät seinen Weg zu Tjured fand und den die Heiden in den Wäldern von Drusna ermordeten. Er hat alle verflucht, die die Hand gegen ihn erhoben haben. Binnen Jahresfrist waren seine Mörder tot. Die Heiden waren davon so beeindruckt, dass sie zu tausenden den Glauben an Tjured annahmen. Sein Fluch wirkt noch bis auf den heutigen Tag weiter, sagt man. Wer eines seiner Bildnisse schändet, der muss mit dem Schlimmsten rechnen. Selbst als Heiliger ist Romuald ein zorniger Mann geblieben.«
Farodin traute seinen Ohren nicht. Wie konnte man nur solchen Unsinn glauben? »Ihr habt nichts getan. Romualds Fluch wird allein mich treffen. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, wir .« Krachend zerbarst das Tempelportal.
»Nuramon, geh voraus. Führe die Priester. Wir müssen einzeln über das Baugerüst klettern und dann zum Nachbarhaus hinüber. So fallen wir weniger auf. Und wir sollten das Gerüst nicht mit zu viel Gewicht belasten.«
Unten aus der Tempelhalle erklangen die Rufe der Krieger.
»Gießt das Öl der Lampen über das Gerüst, wenn ihr flieht.«
»Warum ich?«, fragte Nuramon. »Du kennst den Weg .«
»Und ich bin der bessere Schwertkämpfer.«
Nuramon sah ihn beleidigt an.
»Geh schon! Ich werde sie aufhalten.«
Auf der Wendeltreppe waren schwere Schritte zu hören. Farodin griff nach den Lampen und warf sie die Stufen hinab. Dann riss er einen Ärmel von seinem Hemd und tränkte ihn mit Öl. Am Docht einer Lampe entzündete er den Stoff. Das Öl war von minderer Qualität. Es fing schwer Feuer, und dicker, schwarzer Qualm stieg auf, als es endlich brannte. Der Elf warf den Ärmel die Treppe hinab und beobachtete, wie die Flammen über das vergossene Öl leckten. Schnell verzehrte das Feuer den Stoff… und verlosch.
Fassungslos starrte Farodin die Stufen hinab. Das Öl war von allzu schlechter Qualität gewesen! Der erste Krieger kam um die Wende der Treppe in Sicht. Ängstlich duckte er sich hinter seinen Schild. Der Anblick des Elfen ließ ihn zögern. Dann wurde er von nachfolgenden Kämpfern weitergeschoben.
Farodin streckte sich und lockerte seine Muskeln. Er war entschlossen, den Menschen einen guten Kampf zu liefern.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie eine Gruppe Schützen unten in der Halle anlegte. Ihre Salve war schlecht gezielt. Armbrustbolzen schlugen in die hölzerne Verkleidung der Galerie; klirrend zerbrach eines der großen Fenster.
Angefeuert von den zornigen Rufen seiner Kameraden, machte der Schildträger einen weiten Satz nach vorn und rutschte auf den ölverschmierten Stufen aus. Schwer schlug er auf die Steintreppe und riss etliche seiner Kameraden mit sich.
»Komm!« Guillaume stand in der Fensternische und winkte Farodin zu. »Die anderen sind schon auf dem Dach.«
Der Elf schob sein Schwert in die Scheide zurück. Guillaume packte seinen Arm und zog ihn hoch zur Fensternische. Der Priester war trotz seines schlanken Körperbaus erstaunlich stark. Mit nur einer Hand hatte er Farodin hinaufgeholfen. War diese Kraft ein Erbe seines Vaters?
Ein Armbrustbolzen schlug knirschend in die gewölbte Decke der Fensternische. Vom Platz vor dem Tempel war die Stimme des Anführers der Krieger zu hören. Er hatte ihren Fluchtweg entdeckt.
»Geh du zuerst!«, sagte Farodin.
Der Priester zögerte.
»Worauf wartest du?«
»Ich… Ich habe Angst… vor der Höhe. Wenn ich nach unten blicke, dann bin ich wie gelähmt. Ich… Ich kann nicht. Lass mich zurück!«
Farodin packte Guillaume grob beim Arm. »Dann gehen wir zusammen!« Er zerrte ihn zum Rand der Nische. Gemeinsam sprangen sie auf die hölzerne Plattform unter dem Fenster. Das Gerüst erzitterte unter ihrem Aufprall.
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