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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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steckte seinen Universalschlüssel in das Schloss der Eingangstür. Sein pfeifender Atem verriet ihn. Er legte zwei Finger unter seine frei endenden falschen Rippen und drückte daran, um seinen Schmerz zu lindern.
    Sechster Stock.
    Er eilte die Stufen des Dienstbotenaufgangs in großen Sprüngen hinauf und huschte in den schmalen Gang hinein, der zu den Dienstbotenkammern führte. Weil er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, betätigte er nicht den Schalter und schlich auf leisen Sohlen die Wände entlang, wobei er im Dunkeln die Türen zählte.
    Er betrat Amandines Zimmer und brauchte kein Licht, um zu verstehen, dass ihm jemand zuvorgekommen war.
    Die Kammer war leer. Die Möbel und das Bett waren nicht verrückt worden, aber sämtliche persönliche Habseligkeiten verschwunden. Ihr Rechner war nicht mehr da und mit ihm Adressen, Websites und die Chance, die Kinder aufzuspüren.
    »Nein, nein, nein ...«
    Léo öffnete mit Gewalt die Einbauschränke in der Kochnische. Er sah flüchtig sein Spiegelbild und zertrümmerte den Spiegel über der Spüle. Er glitt an der Wand entlang und klopfte gegen die Nuten des Holzfußbodens. Seine Hoffnungen zerrannen.
    »Ist da jemand?«
    Léo verharrte reglos. Jemand drückte die Tür auf und schlüpfte ins Zimmer. Versteckt hinter dem Mauervorsprung der Küche, sammelte er seine Kräfte.
    »Was machen Sie da?«
    Der Schatten fuhr schreiend zusammen. Der Lieutenant schaltete das Licht an und stand einem verschreckten jungen Mann gegenüber.
    »Ich habe ein lautes Geräusch gehört. Ich bin der Nachbar. Bitte. Ich ...«
    »Schnüffelst du oft hier herum?«
    »Nein ... ich ... habe gedacht, der Bulle ... ich will sagen, der Polizist ... hätte etwas vergessen.«
    »Welcher Polizist?«
    »Na derjenige, der gestern Abend hier war.«
    »Hat er Ihnen seinen Namen gesagt?«
    »Er war von der Mordkommission. Das hat er mir jedenfalls gesagt. Kommissar Rilk, glaube ich, bin mir aber nicht ganz sicher.«
    Léopold brauchte nur wenige Sekunden, um den Namen mit einem Vornamen zu versehen.
    Jean-François Rilk. Der Bär.
    Blandine hatte ihm gesagt, sie führe die Ermittlungen ohne Zustimmung ihres Vorgesetzten durch. Aber was hatte Rilk dann hier gesucht?
    Léo dachte noch einmal an die Vernehmung von Clarisse Katz. Sie wollte nichts sagen, weil sie sich nicht sicher fühlte. Amandine war umgebracht worden, da sie etwas herausgefunden hatte. Keine von beiden hatte sich der Polizei anvertraut.
    Das musste einen Grund haben.
    Was sie wussten, stellte eine Bedrohung für jemanden dar, der ihnen sehr nahestehen musste.
    Und Amandines Rechner enthielt den Schlüssel zur Lösung des Rätsels.

60
La Creuse,
Sondereinheit
    Broissard betrachtete die Natur, die sich endlos vor ihm erstreckte. Raureif überzog wildwachsende Pflanzen und puderte die Hügel weiß. Äste überragten das Auto, das zur Hälfte vom Waldsaum verhüllt wurde. Sylvain Carrère, der zusammengekrümmt im Fonds lag, hatte einen unruhigen Schlaf. Alain konnte nicht verhindern, dass ihn jedes Mal, wenn der junge Mann, von Alpträumen gequält, zusammenfuhr, ein Schuldgefühl überkam.
    Weshalb hatte er ihn da hineingezogen?
    Weshalb wiederholte er mit Sylvain seine Beziehung zu Maxime?
    Er rauchte, bis er den Duft der Linden nicht mehr riechen konnte, und riss sich von der Betrachtung der Landschaft los. Jarnages war nur noch einige Kilometer entfernt. Sie waren weit weg von den gewalttätigen Ausschreitungen, und dennoch verbarg sich hinter dem friedlichen Anschein der Ortschaft eine Hölle.
    Er war der Sache nicht mehr gewachsen. Zu alt. Zu verbraucht. Er hatte das Gefühl, in diesem Fall mit der Lernäischen Hydra kämpfen zu müssen. Maxime und er hatten dem Netzwerk das Haupt abgeschlagen, und trotzdem waren andere nachgewachsen. Je intensiver er nachdachte, umso weniger blieb von seinem Pragmatismus übrig. Er musste sich den Tatsachen beugen. All das überforderte ihn. Seine Nervenzellen fanden keine logischen Verbindungen mehr.
    Was er in dem Kabuff in Dijon entdeckt hatte, war ihm auf den Magen geschlagen, und die Krämpfe hatten ihn einen Großteil der Nacht wach gehalten. Jemand kam ihnen systematisch zuvor und tilgte alle Indizien. Kein Zweifel, dass sie die nächsten auf der schwarzen Liste waren.
    Und dieses Mädchen in dem Film.
    Er hatte sie bereits gesehen, bevor Luc Digler ihm die Fotos zeigte. Er schabte die dünne Frostschicht auf der Windschutzscheibe ab, setzte sich ans Lenkrad und fuhr los. Das

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