Die elfte Geißel
Digler seine Schubladen durchwühlte. Seine Finger umklammerten den Hörer.
»Da habe ich sie. Amandine Clerc. Zwanzig Jahre. Als Künstlername wollte sie Alice Deloges. Nicht sehr spannend als Pseudonym.«
61
Jarnages,
Sondereinheit
Der spitze Kirchturm deutete auf eine verschleierte Sonne. Am Ortseingang bremste Broissard ab; er fuhr über die Brücke, das Flüsschen Verreau, und bog in eine Gasse ein, um die Hauptstraße zu umfahren. Seit seinem letzten Besuch schien sich nichts verändert zu haben. Als hätte die Zeit stillgestanden. Er sah sich im Geist neben Maxime sitzen. Noch immer diese menschenleeren Alleen, diese niedrigen Häuser. Noch immer die scheinbare Banalität, die bedrückende Ruhe.
Dennoch hatten ihn die Spuren nach Neverland hierher, in diese Gegend, geführt. Zwei Pädophilen-Netze am gleichen Ort. Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Wahrscheinlichkeit war gleich null. Jetzt tauchte das Phantom von Alice Deloges auf. Ein weiterer Anhaltspunkt. Sie stellte die Verbindung zwischen dem Erzengel und Kolbe her. Er ahnte, dass sie der Kern der Geschichte war oder vielmehr ihr Auslöser. Aber das Warum ihrer Anwesenheit blieb im Dunkeln.
Zwei Gesichter prägten diesen Fall: das von Montoya und das von Kolbe, beide ineinandergeblendet. Die Idee von Gut und Böse, von Schwarz und Weiß war wie weggefegt. Der Manichäismus zertrümmert. Alain erwog die Möglichkeit, dass bei den Ermittlungen über die Vorfälle in Jarnages Fehler unterlaufen waren, doch er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Er versuchte Maxime die Unschuldsvermutung angedeihen zu lassen, die er Gérard Maurois vorenthalten hatte.
Carrère beugte sich zur Scheibe vor, um die Fassaden genauer in Augenschein zu nehmen, die Dramen zu ergründen, die sich hinter der unveränderlichen Gleichförmigkeit der alten Steine abspielten. Die Szenerie der Verbrechen, die sich in Jarnages abspielten, hatte nichts mit dem zu tun, was er sich vorgestellt hatte. Durch den Filter der Zeitungsausschnitte und der Fernsehnachrichten war in seinem Kopf ein entstelltes, äußerst düsteres Bild einer elenden, nebelverhangenen Ortschaft entstanden. Er musste zugeben, dass er sich auf der ganzen Linie getäuscht hatte. Sein Blick blieb an nichts hängen, was aus dem Rahmen gefallen wäre. Trotzdem wurden nicht weit von hier, irgendwo in der Umgebung, Gräueltaten begangen. Gräueltaten, die er nie für möglich gehalten hätte.
Wie um ihm recht zu geben, fuhr der Wagen wie von selbst über eine Landstraße außerhalb des Marktfleckens. Ein Schild hieß den Autofahrer »Herzlich willkommen in der Siedlung Des Mirabelles«. Broissard fuhr, ohne zu zögern, über das schmale Asphaltband, das die Felder durchschnitt. Er atmete stärker, als er den schwärzlichen Haufen erblickte, der das Grün tüpfelte. Die Überreste des Hauses drohten einzustürzen. Der Wind kühlte seine feuchten Wangen.
Das Portal quietschte, als er den Garten betrat und über den fahlen Rasen ging. Er näherte sich der Vorderseite, die als einzige Hausmauer noch stand, wie eine künstliche Kulisse, die die Stigmata des Domizils der mutmaßlichen »Bestie von Jarnages« kaschierte. Er drückte die wacklige, mit einem Beil zerhackte Eingangstür auf und blieb auf der Schwelle stehen.
Die Balken des Dachstuhls waren heruntergestürzt und lagen wie Mikado-Stäbchen kreuz und quer im Wohnzimmer. Ein bis auf die Federn verbranntes Sofa stand mit anderen Möbelresten herum. Die Spuren der Verwüstung und der Feuersbrunst bildeten einen Kontrast zur strengen Aufgeräumtheit und Nüchternheit der Einrichtung. Chaos und Ordnung schienen in Harmonie zu sein. Die Natur hatte schon begonnen, das Gebäude wieder in Besitz zu nehmen, Efeu rankte sich über den Bauschutt. Von dem kleinen Bambusgehölz unter der Veranda war nur eine Reihe schwarzer Stängel übrig geblieben.
Broissard versuchte für die Familie Maurois zu beten. Vergeblich. Das ganze Haus glich einer schwärenden Wunde, aus der sich der Eiter von Wut, Leid und Trauer ergoss. Eine unsichtbare Mauer, die keine Gebete durchdringen konnten. Vor dem Hauseingang spürte Alain, wie ihn die Kräfte verließen. Gérard Maurois hatte immer seine Unschuld beteuert, und er hatte ihn verurteilt, blindlings Maximes Überzeugungen folgend.
»Alain?«
Ihm fiel auf, dass ihn Sylvain zum ersten Mal mit seinem Vornamen anredete.
»Wir können nicht hierbleiben«, murmelte der Brigadier.
Broissard sammelte sich und zwang sich dazu, seine
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