Die elfte Geißel
Knattern des Motors weckte Carrère, der sich streckte, während ihm die Zunge am Gaumen klebte.
»Warum haben Sie mich nicht früher geweckt?«
»Es schien, als würdest du tief schlafen.«
»Dabei hatte ich nur einen Alptraum nach dem anderen«, sagte er gähnend.
Carrère ließ sich in seinen Sitz sinken und heftete die Augen auf die Straße, um das Gefühl der Übelkeit abzuschütteln.
»Ich habe von ihnen geträumt ... von Kindern.«
Broissard warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu und murmelte zwischen den Zähnen:
»Tut mir leid.«
Carrère quetschte sich über den Schalthebel nach vorn und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Er durchwühlte das Handschuhfach, um eine Schachtel Zigaretten herauszunehmen. Ein drückendes Schweigen, das nur durch das Klicken des Zigarettenanzünders unterbrochen wurde, senkte sich über den Fahrgastraum. Carrère zog an seiner Zigarette und atmete den Rauch langsam ein. Er wartete, bis sich die letzten Nebelschleier des Schlafs gelichtet hatten, ehe er sich an Broissard wandte.
»Haben Sie viele solcher Filme gesehen? Ich meine, mit Kindern?«
»Zu viele. Viel zu viele.«
»Und ... Sie sind nicht verrückt geworden?«
»Das kannst du besser beurteilen als ich.«
»Hat Sie nie das Gefühl beschlichen, dass Sie Ihr Leben geopfert haben? Sie haben keine Kinder, keine Frau. War es das wirklich wert?«
Broissard wusste nicht, was er antworten sollte. Er sah sich im Geiste noch einmal zwanzig Jahre jünger, als er seine Hand nicht auf den gespannten Bauch von Tatiana legen und nicht glauben wollte, dass er Leben geschenkt hatte, als er seine Vaterschaft nicht annehmen konnte. Aber in den letzten Jahren waren diese Gewissheiten erschüttert und die Fundamente seiner Existenz brüchig geworden. Der allzu tiefe Schmerz, den er spürte, öffnete ihm die Augen. Und er ließ alles, was er versäumt hatte, Revue passieren. Inmitten dieses unförmigen Chaos sah er flüchtig alles, was gewesen war und was nie mehr sein wird.
»Ich hatte eines.«
»Wie bitte?«
»Ich hatte einen Sohn, als ich so alt war wie du. Na ja, ich habe ihn nie gesehen. Ich habe ihn und seine Mutter vor seiner Geburt verlassen.«
Drei Tage bevor ihm Tatiana die Neuigkeit eröffnete, hatte er der Obduktion eines achtjährigen Kindes beigewohnt. Die Tatsache, dass er die beiden sitzengelassen hatte, hatte er vor sich selbst immer mit dem Anblick dieses ausgeweideten schmächtigen Körpers auf dem chromierten Seziertisch gerechtfertigt. Jetzt wurde ihm bewusst, dass alles nur ein Vorwand gewesen war, ein vorgeschobener, fadenscheiniger Grund, um seine Feigheit zu kaschieren. Sein Fluchtimpuls war wie immer stärker gewesen.
Carrère wand sich auf seinem Sitz umher und kaute nervös auf dem Filter seiner Zigarette, als ob die Erinnerungen an den Alptraum auf die Windschutzscheibe projiziert würden.
Broissard beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, als er seine Zigarette ausdrückte und eine neue anzündete. Er deutete eine plumpe Geste an, um ihn aufzumuntern, doch ein jäher Schauder ließ ihn innehalten. Eine Erinnerung, eine Schlussfolgerung, und schon zog ihm eine blitzartige Erkenntnis den Boden unter den Füßen weg.
Er trat unverwandt auf die Bremse. Der Wagen geriet ins Schleudern und wäre um ein Haar von der Fahrbahn abgekommen. Das Gesicht des Mädchens tauchte direkt aus seinem Gedächtnis auf. Ihm fiel ein, wo er es gesehen hatte.
Die Wohnung von Maxime.
Die Fotos von Étienne Caillois, auf denen er den Wodka verschüttet hatte.
Auf den Aufnahmen der Überwachungskameras war zu sehen, wie sie sich im Sprechzimmer des Gefängnisses mit dem Häftling unterhielt.
Er stellte den Wagen auf dem Seitenstreifen ab.
»Was ist los?«, schrie Carrère.
Ohne zu antworten, wählte Alain die Nummer von Digler.
»Luc? Broissard am Apparat.«
»He, Cowboy! Ich habe deine Birne im Fernsehen gesehen. Was machst du nur für Sachen? Bist du auf der Flucht? Deine Kumpels sind gekommen, um mich auszuquetschen. Sie haben zwei meiner Mädchen eingebuchtet! Ich dachte, wir hätten einen Deal!«
»Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären. Erinnerst du dich an das Mädchen, von dem du mir erzählt hast? Blond, etwa zwanzig Jahre alt?«
»Na klar, wie könnte ich die Kleine vergessen!«
»Kennst du ihren Namen?«
»Ich habe irgendwo eine Fotokopie ihres Ausweises. Du weißt, wie genau ich es mit dem Alter meiner Darstellerinnen nehme. Du solltest es deinen Kollegen von der Sitte erklären!«
Er hörte, wie
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