Die elfte Geißel
regelrechtes Drogendelirium geschleudert, in dem Angst, Mitleid und Hass ununterscheidbar miteinander verschmolzen. Er hatte schnell seine Schlüsse gezogen: Bestien trieben in der Region ihr Unwesen, und er musste sie fassen, bevor sie seinem Sohn etwas antun konnten, ihnen entweder Handschellen anlegen oder sie mit drei Dum-Dum-Geschossen der neuesten Generation abknallen.
Mehr steckte nicht dahinter.
In dieser Hinsicht hatte er seine Arbeit im Einklang mit seinen Überzeugungen erledigt.
»Corentin? Kommst du, dein Essen ist fertig«, rief er vom Wohnzimmer aus.
Er hörte, wie sich etwas über seinem Kopf regte, und ein Tornado stürzte die Treppe hinunter. Ein zerzauster Blondschopf warf sich aufs Sofa und stopfte sich die Kekse in den Mund.
»Papa, gehen wir heute Abend ins Kino?«
»Wenn du willst. Ich werde nachsehen, was läuft.«
Corentin erblickte auf dem Couchtisch einen Zeitungsartikel, den sein Vater ausgeschnitten hatte. Darin war ein Foto des einzigen Sohns von Gérard Maurois abgebildet.
»Glaubst du, dass er dort glücklich ist?«, fragte er und zeigte auf das Blatt.
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es«, antwortete der Kommissar. »Hier! Dein Fruchtsaft. Orange mit Aprikose, den wolltest du doch, oder?«
Corentin trank gierig und schmiegte sich in die Arme seines Vaters, um sich eine Folge der Simpsons anzusehen.
Corentin und der Sohn der Maurois spielten in derselben Hockeymannschaft. Er war ein fröhlicher Junge, ein bisschen draufgängerisch, der gern den Halbstarken gab. Bei Spielen gegen Mannschaften aus anderen Departements war Musil zwei- oder dreimal dessen Vater begegnet. Nicht im Traum wäre er auf den Gedanken gekommen, dass dieser Mann ein Vergewaltiger und Mörder sein konnte. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb er die Augen davor verschlossen hatte, dass Maxime Kolbe Berichte fälschte. Um seine Verblendung nicht wahrhaben zu müssen.
Als Maxime Gérard Maurois als Hauptverdächtigen bezeichnete, bekannte er sich schuldig, dass er diesen Mistkerl so nahe an seinen Sohn herankommen hatte lassen, dass er die Schattenseite dieses freundlichen Mannes nicht erkannt hatte, der sich abseits hielt und es höflich ablehnte, sich zu den übrigen Vätern, die ihre Söhne unterstützten, zu gesellen. Und als die aufgebrachten Dorfbewohner sein Haus in Brand steckten, war er nicht sofort eingeschritten. Er hatte seine Männer davon abgehalten, die Feuerwehr zu rufen, weil ein Teil von ihm es als gerecht und billig ansah, dass er für seine Verbrechen bezahlte.
Dann wurde er freigesprochen.
Von den schändlichen Beschuldigungen, die auf ihm lasteten, reingewaschen, war Gérard Maurois nur noch ein Vater, dessen Sohn und Ehefrau auf bestialische Art und Weise umgebracht worden waren. Der Kommissar fragte sich ein weiteres Mal, was aus ihm würde, wenn man ihm jemals sein Kind wegnehmen würde. Es waren nicht die Verfehlungen von Maxime Kolbe, sondern seine eigene Mitverantwortung an diesem grausamen Tod in den Flammen, die ihm keine Ruhe ließ. Und das Loch in seinem Magen erinnerte ihn jeden Tag, jede Nacht daran.
»Papa, wieso bellt Danny so laut?«
Der Kommissar stellte den Fernseher leiser und spitzte die Ohren. Aus ihrem Zwinger bellte die Deutsche Dogge, was das Zeug hielt.
»Er hat bestimmt Hunger. Ich werde ...«
Die Türglocke läutete zweimal und schnitt ihm die Worte ab.
»Wer ist das?«, fragte Corentin.
»Keine Ahnung.«
Er hatte noch drei Tage Urlaub, und seine Leute hätten ihn angerufen, wenn es auf dem Polizeirevier ein Problem gegeben hätte. Wer könnte ihn wohl stören?
Mit schleppenden Schritten begab er sich zur Tür und sagte sich, wenn es wieder diese bescheuerten Zeugen Jehovas wären, würde er den Hund auf sie hetzen. Es verschlug ihm den Atem, als er auf der Freitreppe eine Gestalt erblickte, die er nur allzu gut kannte.
»Kommissar Musil. Erinnern Sie sich an mich?«
63
Guéret,
Sondereinheit
Die Dogge in ihrem Zwinger witterte die Spannung, die in der Luft lag und begann wieder zu bellen. Kommissar Musil musterte Broissard.
»Sie sollten sich wieder fangen. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Capitaine.« Mit dem Kopf deutete er auf Sylvain Carrère. »Und der da, wer ist das? Ihr Leibwächter?«
»Ein Kollege.«
»Sind Sie nicht suspendiert? Was treiben Sie sich vor meinem Haus herum? Wollen Sie offene Rechnungen begleichen, dann sagen Sie es gleich.«
Er drehte sich so weit zur Seite, dass der Schlagstock, der auf einer Kommode
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