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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Aufgewühltheit zu verbergen. Aus Scham darüber, in diesem Moment der Schwäche ertappt worden zu sein, kehrte er unvermittelt zum Wagen zurück und ließ die Asche hinter sich.
    »Die Zeit drängt. Sie werden nicht lange brauchen, um uns aufzuspüren. Wenn sie es nicht schon getan haben«, sagte Carrère und ließ seinen Blick durch die Umgebung schweifen. »Wo fahren wir jetzt hin?«
    »Uns bleibt nur ein Weg, um bis zu den Kindern vorzudringen: Wir müssen die Ermittlungen in Sachen Neverland und die Ermittlungen zu den Straftaten in Jarnages übereinanderlegen.«
    Buchstäblich, wie Pauspapier, um die Grundlinien und die Schnittpunkte zum Vorschein zu bringen, in der Hoffnung, dass dies irgendetwas erklären konnte. Ein Teil seines Selbst bekam Risse. Er hatte das quälende Gefühl, die düsteren Trümmer des Hauses wären eine dreidimensionale Projektion seiner eigenen Existenz.
    »Erinnern Sie sich noch hinreichend an die Details des Falls?«
    »Ich kennen jemanden, der uns helfen kann.«

62
Guéret,
Sondereinheit
    In seiner Küche bereitete Robert Musil den Nachmittagsimbiss für seinen Sohn zu. Der fast fünfzigjährige Kommissar aus Guéret war groß und hager, nichts als Haut und Knochen. Er hatte wunderbare bernsteinfarbene Augen, einen sonnengebräunten Teint, mächtige Kiefer und militärisch kurzgeschnittenes blondes Haar, das ihm das Aussehen eines alternden Schauspielers, eines Überlebenden von Hollywoods goldenem Zeitalter verlieh. Er entnahm dem Wandschrank ein Päckchen Schokokekse und unterdrückte ein Stöhnen. Sein Magengeschwür meldete sich, ein genau umschriebener stechender Schmerz im Bauchraum. Der Stress, im Prozess gegen Maxime Kolbe aussagen zu müssen, hatte das Loch in seinem Verdauungstrakt weiter vertieft.
    Ein beschissener Tag folgte dem anderen.
    Der Kommissar verkrampfte sich und goss seinem Sohn ein Glas Fruchtsaft ein. Er trug das Tablett in die Nähe des Fernsehers und schob mit dem Fuß den Wust an Krimskram vom Couchtisch. Der Lieblingszeichentrickfilm von Corentin begann in fünf Minuten; er servierte sich einen Gin Tonic und ließ sich auf das Sofa fallen, schon im Vorhinein vom Aufräumen und Putzen der Wohnung erschöpft. Obwohl er für gewöhnlich so ordentlich war, fühlte er sich seit mehreren Monaten in einer Lotterwirtschaft aus ungewaschener Wäsche und schmutzigem Geschirr wohl. Wenn die Sozialarbeiterin an die Tür klopfen würde, wäre mit Sicherheit eine Meldung ans Gericht fällig. Der Gedanke, das Sorgerecht für Corentin zu verlieren, trieb ihm die Tränen in die Augen.
    Seine Karriere als Polizist, sein Alltag – alles zerrann ihm zwischen den Fingern. Er musste sich wieder fangen. Ihm blieb nichts anderes übrig.
    Er hatte geglaubt, wenn er Maxime Kolbe auf der Anklagebank sähe, zur Rechenschaft gezogen für seine Mauscheleien bei den Ermittlungen in den Missbrauchsfällen von Jarnages, würde dies genügen, um ihm einen heilsamen Schock zu versetzen. Doch dem war nicht so gewesen. Im Gegenteil.
    Der Anwalt des Pariser Kommissars hatte angedeutet, sein beruflicher Ehrgeiz habe ihn, Musil, dazu bewogen, den Verhaltenskodex für Polizisten zu missachten. Er hatte ihn als einen einfachen Polizisten vom Land hingestellt, ganz versessen auf Anerkennung, der einfach die Gelegenheit ergriffen hatte, um von sich reden zu machen. Er hatte nichts von alldem verstanden.
    Er mochte diese behagliche Stille, dieses vergleichsweise angenehme Landleben im Departement La Creuse. Nach sechs aufreibenden Jahren in Lille und ständigen Auseinandersetzungen des menschlichen Abschaums überdrüssig, hatte er seine Versetzung beantragt. Ein Abschied, der ihn schließlich seine Ehe kostete. Der Anwalt lag völlig daneben. Die einzige Motivation von Robert Musil in diesem Fall war im Endeffekt äußerst simpel.
    Mehr noch als Polizist war er Vater.
    Und ein Vater musste sein Kind beschützen. Gegen alles und alle.
    Als er die Leiche entdeckt hatte, hatte ihn bei dem Gedanken, dass es sein eigener Sohn sein könnte, der mit seinen zehn Jahren ausgestreckt da auf dem Boden lag, den Kopf in den Torf gedrückt, eine lähmende Angst erfasst. Die Autopsie des Jungen, sein bleicher Körper mit dem Skalpell zerschnitten, sein kleines Herz in einer Schale liegend, die Haut von Knutschflecken übersät, der Anus abgescheuert, totgeschlagen von einem wahnsinnigen, perversen »Schwarzen Mann«, die ganze schreckliche Geschichte, die dieser Leichnam erzählte, hatte ihn in ein

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