Die elfte Geißel
abseits der N34. Hinter dem Grundstück erstrecken sich Felder.«
Léo las auf dem Beifahrersitz die Fotos aus der Akte auf. Er betrachtete die Fassade eines seltsamen Hauses. Eine ungewöhnliche Bauweise, schlauchförmig. Große Glasfenster im Erdgeschoss. Die in einem grellen Rot gestrichene Haupttür zog seine Aufmerksamkeit auf sich und erinnerte ihn an etwas, was er schon einmal gehört hatte. Die vage Erinnerung an eine Zeugenaussage.
»Zwei Eingänge. Wir nehmen den Hintereingang. Er führt in die Küche. Drei Männer zur Erkundung des Hauses, drei Männer mit Ihnen für den Keller. Ist das Ihre Feuertaufe, Lieutenant?«
»In gewisser Weise.«
»Dann vergessen Sie nicht, wenn das aus dem Ruder läuft, schießen Sie, um zu töten.«
Wenn das aus dem Ruder läuft.
Er spürte einen Kloß im Hals. Er zwang sich dazu, seinen Speichel hinunterzuschlucken.
Wenn das aus dem Ruder läuft.
Dichtes Unterholz. Léo, nach vorn gebeugt, lief hinter den drei Männern her. Seine Pistole an einen Schenkel pressend, fiel es ihm in seiner kugelsicheren Weste schwer, zu atmen.
Die Männer des SEK forderten die anderen durch ein Handzeichen auf, stehen zu bleiben, und verkrochen sich in der Dunkelheit. Die Bäume wogten im Wind. Alles um sie herum bewegte sich. Sie verharrten reglos. Die Sekunden verstrichen. Sturmböen ließen Äste brechen, und ein Säuseln erfüllte den Wald. Léo keuchte, auf der Hut vor unsichtbaren Bedrohungen, die sie einkreisen mochten. Den etwa zehn Meter vor ihm kauernden Mann erkannte er nur schemenhaft.
Eine Minute. Alles okay.
Sie fingen wieder an zu laufen. Der Wind heulte lauter in den Bäumen. Der Waldsaum durfte jetzt nicht mehr weit sein. Ihre Füße verfingen sich in Brombeergestrüpp. Die Geräusche ringsherum verstärkten sich. Er atmete ruhiger und tauchte in die Dunkelheit ein. Lichter erschienen zwischen den Stämmen. Léo ging langsamer und verstärkte den Griff um seine Waffe.
Der von Scheinwerfern angestrahlte Rasen zog sich bis zu einem Swimmingpool. Der Wind kräuselte die Oberfläche. Zwei Wagen standen in der Allee. Im Haus war es dunkel. Kein Anzeichen von Leben. Die Eingangstür lenkte Léos Blick auf sich.
Das gleiche Rot wie auf den Fotos. Das gleiche Rot, das die Stimme eines Kindes beschrieben hatte. Und alles wurde klar.
Der Vergessenheit entrissen: die Stimme von Alice Deloges bei der ersten Vernehmung. Das Mädchen hatte von einer Tür gesprochen, die einem Blutfleck glich. Das Haus, das Maxime als das des Vergewaltigers identifiziert hatte, war grau. Die Beschreibung des Mädchens war auf seine Traumatisierung zurückgeführt worden, eine durch das alptraumhafte Erlebnis verzerrte Wahrnehmung. Es hatte das Haus nicht wiedererkannt.
Könnte es sein ...
Sie stürzten los. Dicht an den Bäumen entlang, gingen sie um die Lichtung und das Haus herum. Ein riesiges Feld, so weit das Auge reicht.
Der Mann an der Spitze bedeutete ihm, sich hinzulegen. Die Männer des SEK überprüften ein letztes Mal ihre Waffen. Dann robbten sie über die Rasenfläche zur Rückseite des Hauses. In der Hocke, mit dem Rücken zur Wand, die Waffen vertikal haltend, umlagerten sie die Tür. Erhobener Zeigefinger. Eine Minute bis zum gewaltsamen Eindringen. Sie starrten auf ihre Uhren.
Zehn Sekunden.
Eingeschaltete Taschenlampen, auf die Mauer gerichtet, um die Lichtbrechung zu dämpfen.
Zwanzig Sekunden.
Schweiß in den Augen. Adrenalin-Infusion.
Dreißig Sekunden.
Léo verkrampfte sich, um den Anfall abzuwenden, den er in sich heraufsteigen spürte.
Fünfzig Sekunden.
Der Mann neben der Tür atmete ein und steckte ein Röhrchen ins Schloss. Durch die Verpuffung sprang die Tür auf.
Sie stürzten sich in die rauchende Öffnung. Die Lichtkegel der Taschenlampen glitten durch die Küche. Schreie im ersten Stock. Léo folgte der Bewegung. Automatische Gesten. Eine weitere Explosion. Die Eingangstür sprang auf, und drei Männer stürzten mit vorgehaltenen Gewehren herein. Schreie und Heulen in der ersten Etage. Kinder. Zwei Männer eilten zur Treppe. Im Flur, der von der Küche abging, gab es keine Türen. Nur eine gleichförmige Mauer.
»Mist! Wo ist der Eingang zum Keller?«, schrie ein Mann, der auf der Suche nach einer Unebenheit die Verkleidung abtastete.
»Das gibt’s doch nicht! Er muss da sein!«
Lärm über ihren Köpfen. Léo kauerte sich in eine Ecke, die Waffe vor sich ausstreckend. Die Männer des SEK duckten sich, den Finger am Abzug. Die Lichtkegel der
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