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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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an den Führerstand. Der Zugführer öffnete die Tür.
    »Was ist?«
    Sie hielt dem Mann ihre Dienstmarke vor die Nase.
    »Kommen Sie rein.«
    Mit einem Lächeln forderte er sie auf, sich hinzusetzen, betätigte das Alarmsignal für die Schließung der Türen und fuhr los. Der Fahrer versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen: »Haben Sie genug von dem Gedränge?«
    Die Finsternis, die sich vor ihnen öffnete, hatte etwas Beängstigendes für sie.
    »Nein. Ich habe eine Frage in Bezug auf das Streckennetz.«
    Der Mann lachte schallend, während er abbremste, da sie sich der Station Place de la Concorde näherten. »Dafür gibt es doch Pläne!«
    »Eben. Ich habe die Station, die ich suche, nicht gefunden. Sie heißt Haxo. Ich habe mir gesagt, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«
    »Haxo? Die werden Sie nicht finden. Das ist eine Geisterstation. So werden die Stationen genannt, die nie fertiggestellt wurden. Sie haben keinen einzigen Fahrgast gesehen. Es gibt nicht einmal Ausgänge.«
    »Wo genau befindet sich diese Station?«
    »Wenn ich mich recht entsinne, liegt sie auf einer Linie, die nie gebaut wurde und die die Linien 7a und 3a miteinander kurzschließen sollte. Sie sollte die Place des Fêtes mit der Porte des Lilas verbinden. All dies dürfte auf den Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Aber wenn Sie die Haxo besichtigen wollen, müssen Sie auf den Tag der offenen Tür warten. Da organisiert die RATP eine Sonderfahrt durch alle Stationen, die dichtgemacht wurden.«
    Das schrille Alarmsignal hallte erneut wider, und die Türen schlugen zu. Der Zug tauchte in den Tunnel ein. Durch einen Spannungsabfall gingen kurzzeitig die Lichter im Zug aus.
    »Porte des Lilas ...«, stammelte Blandine.
    Als die Lichter wieder angingen, warf ihr der Fahrer einen Blick zu und fragte sie erschrocken: »Was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja totenblass.«
    Auf einem der Bahnsteige der Station Place des Fêtes stehend, versuchte sie mit Blicken den horizontalen Abgrund zu durchdringen, der vor ihr lag.
    Amandine war etwa hundert Meter von der Stelle entfernt gestorben, wo Alice entdeckt worden war. Das konnte kein Zufall sein. Blandine hatte das Gefühl, den Fäden eines Spinnennetzes zu folgen, das jeden Moment reißen konnte, und je näher sie dem Zentrum des Netzes kam, umso mehr verfing sie sich darin.
    Unter den fassungslosen Blicken der wenigen Fahrgäste stieg sie ins Gleisbett hinunter. Sie durfte jetzt nicht zurückweichen. Im Schein ihrer Taschenlampe betrat sie den stillgelegten Tunnel, der Richtung Porte des Lilas führte. Sich an die feuchte Mauer schmiegend, drang sie Schritt für Schritt in die Finsternis vor und ließ den Lärm der Station hinter sich.
    Nach der ersten Kurve war der Tunnel in völlige Dunkelheit gehüllt, und der Geruch von kaltem Urin hauchte sie vom Boden an. Durch die Ammoniakausdünstungen hindurch erahnte sie den geheimen Geruch des unterirdischen Paris, einer scheußlichen Mischung aus Teer, Abwässern und modrigem Gemäuer. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stellte mit Schrecken fest, dass sie kein Netz hatte. Angst überfiel sie, als ihr klar wurde, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als in das Labyrinth hineinzugehen. Mit jedem Schritt umfing sie die Finsternis etwas mehr.
    Ihre Gedanken konzentrierten sich auf das »ER«, Amandines Mörder, und sie zog behutsam ihre Waffe. Sie atmete ein, und die Kälte drang ihr in die Knochen. Während sie mit der gezogenen Waffe die Finsternis vor ihr überstrich, hatte sie den Eindruck, er halte sich ganz in der Nähe versteckt, aber sein Gesicht blieb unsichtbar.
    Sie glaubte seinen Atem zu spüren, so nah schien er zu sein.

43
Nanterre,
Räumlichkeiten der OCLCTIC
    Sechzehn Minuten, zweiunddreißig Sekunden.
    Der Film war zu Ende, aber niemand machte Licht.
    In sechzehn Minuten hatten die fünf Zuschauer das Gefühl gehabt, zu altern, zu sterben und wieder aufzuerstehen. Die Bilder dieses entsetzlichen Bacchanals verfolgten sie. Die Leuchtröhren blinkten, und das Licht erhellte das Büro der Kommissarin, das zu diesem Anlass in einen Kinosaal umfunktioniert worden war.
    »Gut, allem Anschein nach sind die Produzenten von Neverland rückfällig geworden. Dieser neue Film heißt Wonderland . Ich will, dass sich einer von euch diese Titel vorknöpft. Ich will in zwei Stunden ein umfassendes Briefing.«
    Sie rang nach Luft, offenkundig bemüht, die letzten Bilder aus ihrem Kopf zu verjagen, und sprach mit fester

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