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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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tapfer sein ...«
    »Besteht Hoffnung?«, fragte sie, und schon wurde ihr die ganze Absurdität dieser Frage bewusst.
    »Das Elektroenzephalogramm sagt uns, dass die Lage nicht hoffnungslos ist. Wenn Sie also mit ›Hoffnung‹ meinen, ob er aus dem Koma aufwachen kann, dann lautet die Antwort ja, das ist möglich. Aber ich glaube nicht, dass er seine kognitiven und motorischen Hirnfunktionen zurückerlangen wird.«
    Zunächst nahm sie das, was der Arzt ihr sagte, auf eine sachliche, nüchterne Weise zur Kenntnis. Dann wälzte sie seine Worte im Geist hin und her, ließ sie sich allmählich in sich setzen, worauf sie unvermittelt in ihr explodierten und eine Welle an Emotionen über sie hereinbrach. Selbst wenn Paul überleben sollte, wäre er nie mehr derselbe. Seine Abwesenheit wäre auf alle Fälle endgültig. Dieses Zimmer zwischen ihr und ihm war ein Totenzimmer; das Krankenhaus war das Mausoleum, in dem hier und heute ihre Heirat beerdigt würde.
    Als Blandine durch die Flure des Hôtel-Dieu zum Ausgang ging, hätte sie beinahe ihren Chef übersehen. Jean-François Rilk, der vor einem Fenster stand, schaute den Kranken zum Verwechseln ähnlich – unbewusst hatte er die gleiche Haltung eingenommen, er hielt sich krumm, ließ die Schultern durchhängen, als hätte ihn der Schicksalsschlag zwischen den Schulterblättern getroffen. Sein Blick verlor sich auf dem Vorplatz von Notre-Dame, der um diese Stunde von Schaulustigen und der übernatürlichen Klarheit eines Gewittertages in Besitz genommen wurde. Er merkte nicht, dass sich Blandine näherte.
    »Herr Kommissar?«
    »Blandine ...«, sagte er, wie aus einem Traum erwachend. »Waren Sie bei ihm?«
    »Sie haben mich nicht zu ihm gelassen.«
    Kommissar Rilk äußerte nur ein »Ah«, und sein Blick heftete sich wieder auf das Tympanon der Kathedrale und seinen steinernen Christus, der in einer Haltung unendlichen Mitleids erstarrt war.
    »Verdammtes Sterbeheim ...«, murrte er.
    Blandine wusste nicht, ob er von dem Gebäude sprach, das dem ungewissen Ruhm der Christenheit geweiht war, oder ob er eine Anspielung auf die Flure machte, die überfüllt waren von Seelen, denen noch eine Gnadenfrist gewährt wurde. Er mauerte sich in Schweigen ein und vergaß sie zu fragen, was ihr Kollege während der Ausschreitungen dort zu suchen hatte. Sie wunderte sich darüber. Aber mehr noch über das mitgenommene Aussehen ihres Chefs. Zum ersten Mal sah sie ihn seiner Aura beraubt. Vor ihr stand ein bekümmerter alter Mann, ein Kommissar, den der drohende Tod eines seiner Männer schwer mitnahm. Blandine entfernte sich schweigend.
    Endlich an der freien Luft. In ihr tauchte plötzlich ein ganzes Amalgam austauschbarer Empfindungen und Emotionen auf und verschwand genauso schnell wieder. Verwirrung, Angst, Liebe, Trauer, Verwirrung, Liebe, Angst ... Und so weiter in einem geschlossenen Kreislauf. Sie überquerte die Île de la Cité, ohne sich noch einmal zum Krankenhaus umzuwenden und hoffnungsvoll nach Pauls Gestalt Ausschau zu halten, der am Fenster seines Zimmer steht, wiederauferweckt inmitten all der Dramen.
    Während sie die Treppe zur Metrostation hinunterging, erlitt sie einen Schwächeanfall und klammerte sich am Geländer fest. Als sie in die U-Bahn einstieg, rang sie, eingezwängt zwischen den Fahrgästen, nach Atem. Durch die Scheiben hindurch betrachtete sie die Tunnel, die sich in der Finsternis verloren, und wie darüber geblendet die verblassenden Nachbilder eines vergangenen Glücks. Sie fragte sich, ob Paul das Gleiche sah. Erinnerungen und Lichtblitze vor einem Hintergrund totaler Finsternis.
    Sie musste sich wieder fangen, sie musste den Kampf fortsetzen. Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Sich zusammenreißen. Wieder ins Gleichgewicht kommen. Die Ungewissheit, die Verzweiflung, der Tod, das ganze unvermeidliche Elend, unter dem das Leben jedes Menschen früher oder später begraben wird.
    Alles vergessen.
    Das Schlimmste ertragen.
    Stark bleiben.
    Ihr linker Nachbar stieß sie an und hätte dabei beinahe seine Zeitung fallen gelassen. Als das Papier Blandine streifte, fuhr sie zusammen. Sie kehrte augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Ihr fielen Bruchstücke aus dem Artikel im Privé wieder ein.
    »Mädchen in der Metrostation Haxo gerettet«.
    Metrostation Haxo.
    Sie hatte noch nie von dieser Station gehört und fand sie auch nicht auf dem Plan der Pariser Verkehrsbetriebe.
    In der folgenden Station stieg sie aus und klopfte

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