Die elfte Geißel
eintauchten. Die knallgelben Wände, das Fehlen von natürlichem Licht, das eintönige Rasseln der Schlüssel – dieses Gemisch begann ihm zu Kopf zu steigen. Weiter durch beklemmende Gänge und stickige Räume, kam endlich der Zellentrakt eines Blocks in Sicht.
In einem angrenzenden Zimmer reihten sich Kontrollbildschirme aneinander und zeigten in Schwarz und Blau die Korridore, durch die sie gerade gegangen waren; sie vermittelten die Illusion einer geschlossenen Welt ohne Ein- und Ausgang. Das lange Zimmer hinter der Scheibe aus bruchsicherem Glas war verwaist. Vor den geschlossenen Zellen verliefen auf jeder Etage eiserne Laufstege. Der Aufseher konnte von seinem Platz hinter der Scheibe aus den gesamten Trakt überblicken.
»In letzter Zeit werden sie früher eingeschlossen. Die Stimmung draußen ist ansteckend. Seit Beginn der Ausschreitungen geht man auf Nummer sicher. Aktionsgruppen wie Act Up und die antirassistische Organisation MIB versuchen uns das Leben schwer zu machen, indem sie den Häftlingen aufrührerische Ideen unterjubeln. Wir haben Aufrufe zur Revolte abgefangen, die von außen kamen.«
Gedämpfte Laute drangen aus den Türen und verstummten, sobald sich Schritte näherten. Sprachen und Dialekte vermischten sich in den Zellen wie in einem horizontalen Turm zu Babel. Es roch nach schalen Träumen und in der Nähe von Lüftungsrohren gerauchten Zigaretten.
Maxime sah flüchtig Männer, die, auf schäbigen Matratzen liegend, die stillstehende Zeit totschlugen, mit glasigen, abwesenden Augen. Er strich mit der Hand über die Stahltüren und zog sie jäh zurück. Die Luft war statisch aufgeladen, und elektrische Ladungen breiteten sich wie in einem Hochspannungsnetz aus. Er dachte an die vielen Männer, die er hinter Gitter gebracht hatte. Hundert? Vielleicht mehr.
Vor der letzten Zelle angekommen, klopfte der Oberaufseher an die Stahlplatte.
»Étienne! Du hast Besuch!«
Alsbald antwortete ein dumpfes und wütendes Murren auf die Schläge an die Tür und verbreitete sich zwischen den Mauern. Die vom Lärm aufgeweckten Häftlinge rochen die Bullen, und von Stockwerk zu Stockwerk hagelte es Beleidigungen auf sie herab.
Kommissar Rilk wich instinktiv zurück und ertappte sich dabei, wie er mit der Hand nach dem leeren Holster seiner Pistole griff. Der Aufseher lachte laut auf und trat mit dem Fuß gegen die Mauer.
»Das hält! Keine Angst!«
Er schrie, um sich Gehör zu verschaffen, seine Stimme wurde von dem Grölen übertönt. Er öffnete die Türklappe und wartete darauf, dass der Häftling seine Handgelenke herausstreckte, um ihm die Handschellen anzulegen. Die Schreie und die Beleidigungen wurden lauter, und der Aufseher schlug mit seinem Schlagstock gegen das Geländer, während er schrie:
»SCHNAUZE!«
Stühle und andere Gegenstände prasselten gegen die Stahltüren, und die Vibrationen hallten überall wider und verwandelten das Gefängnis in einen riesigen Resonanzkörper. Im selben Moment trat ein schmächtiger Mann aus seiner Zelle und wurde mit ausgestreckten Armen auf den Fußsteg gezogen. Der Oberaufseher drehte ihn mit dem Rücken zur Wand und drückte ihm den Schlagstock quer über den Hals, wobei er ihm den Adamsapfel quetschte. Er beugte sich an sein Ohr hinab und flüsterte:
»Wenn du nur einen Mucks von dir gibst, Freundchen, und die anderen noch mehr ausrasten, dann erlebst du was. Kapiert?«
Der Mann japste nach Luft und bemühte sich, widerwillig ein »Ja« zu flüstern. Der Aufseher nickte und nahm den Schlagstock herunter. Maxime starrte den Mann an, der nach Luft rang, während er sich den Hals massierte, und fragte sich, wie sich ein Mensch so tiefgreifend verändern konnte.
Étienne Caillois war erst vierzig Jahre alt, aber er glich einem Gerippe, einem Knochenmann in einem Geisterhaus. Seine eingefallenen Wangen ließen mit einer erschreckenden Genauigkeit die Form seines Schädels erahnen. Von dem Mann, den er, Maxime Kolbe, vor Gericht gezerrt hatte, war nichts mehr übrig. Nicht einmal mehr das Blau seiner Augen, die jetzt tief in die Augenhöhlen eingesunken waren, getrübt durch Schlaflosigkeit und die sichtbare, geradezu greifbare Angst, die wie das Wasser einer Quelle, die durch nichts zum Versiegen gebracht werden konnte, schubweise hervorbrach. Zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren ohne Bewährung verurteilt, vermittelte Étienne Caillois das Bild von einem Mann, der seine Lebenserwartung längst ausgeschöpft hatte. An einem Ort wie La Santé
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