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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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als Sie ein Kind waren ... ich habe Sie versteckt ... hier ...«
    Der Obdachlose beleuchtete eine Stelle an der Wand. Ein krakeliger Schriftzug war eingerahmt, geschützt vor dem ausgeschwitzten Schimmel.
    »Ich habe mich drum gekümmert ... Sie haben das geschrieben ... ich wusste, dass Sie eines Tages zurückkommen würden.«
    »Moment mal, wovon reden Sie? Ich bin zum ersten Mal hier.«
    Die Verwirrung war dem alten Mann anzusehen.
    »Sie ... sind Sie nicht Alice?«
    »Ich bin Lieutenante Blandine Pothin. Mordkommission.«
    Der alte Mann lief fahl an, schrie und wollte das Weite suchen. Sie packte ihn und drückte ihm die Faust fest auf seinen Solarplexus.
    »Bringen Sie mich nicht um ... ich bitte Sie ...«
    Verdutzt trat Blandine einen Schritt zurück.
    »Weshalb sollte ich Sie umbringen wollen?«
    »Der andere Polizist ... er hat versucht ... er wollte nicht, dass ich rede ... er wollte nicht, dass ich davon erzähle ... keine Zeugen, sagte er. Aus diesem Grund hat er auf mich geschossen.«
    Perry, der am ganzen Körper zitterte, deutete auf eine Zeichnung an der Wand. Ein Mann hielt einen Revolver auf einen anderen gerichtet, der vor ihm stand und ein kleines Mädchen mit riesigen Augen zu beschützen schien. Blut spritzte aus einer Wunde in der Brust. Perry starrte die Lieutenante an und hob sein T-Shirt hoch. Eine schlimme Narbe, groß wie eine Billardkugel, unter der Brust. Eine Verbrennung zweiten Grades. Spiralförmige Hautschwellung. Ohne jeden Zweifel. Das stammte von einer Kugel.
    Wieso sollte ein Polizist diesen Obdachlosen zum Schweigen bringen wollen?
    Blandine spürte, wie sie eine fieberhafte Erregung überfiel. Das unbeholfene Fresko, das Perry hingeschmiert hatte, bescherte ihr Enthüllungen und Fragen zugleich.
    »Was ist passiert? Ich muss es wissen.«
    Der Obdachlose ließ seinen Blick noch einmal von links nach rechts über die Zeichnungen gleiten, als wollte er sich seinen Erinnerungen stellen.
    »Ich lebe seit vielen Jahren hier. Früher waren wir zu mehreren ... sie sind alle tot ... Aber an diesem Tag kam ein Engel zu mir ... Ich kehrte von der Oberfläche zurück, als ... als ich im Dunkeln ein Kind weinen hörte ... ich habe geglaubt, meine Freunde spielten mir einen Streich. Doch die Kleine war wirklich da ... ein kleiner verschreckter Engel.«
    Ein strahlendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Sein Blick verschleierte sich.
    »Ich weiß nicht, wie lange wir zusammengeblieben sind ... sie hat viel geschlafen. Sie hatte eine Menge Alpträume. Ich gab ihr zu essen ... sie hat mir gesagt, ich wäre der netteste Mensch, den sie kennen würde. Als ich ihr sagte, dass sie diese unterirdische Behausung verlassen und an die Oberfläche zu ihren Eltern zurückkehren müsse, bekam sie Angst ... große Angst. Sie hat mir erzählt, Leute hätten ihr wehgetan ... sehr wehgetan ... sie hat diese Worte an die Wand geschrieben und dann ...«
    Er war ganz zappelig, als er las, was das Kind geschrieben hatte. Ein dunkler Schleier senkte sich über sein Gesicht und vertrieb jäh die vorübergehende Freude, die die Erwähnung von Alice’ Namen in ihm hervorgerufen hatte. Seine Stimme wurde leiser, ferner und bekam durch die schmerzliche Erinnerung an diesem Spätnachmittag eine dunklere Farbe. Perry sah, wie sich der Vorhang vor der Bühne hob, und wunderte sich darüber, dass er dieser unbekannten Polizistin das anvertraute, was er schon so lange auf dem Herzen hatte.
    »Und dann ist ER gekommen ...«
    Er hatte nie über diese Begegnung gesprochen. Auch als man ihn mit Fragen überschüttete – als ihn die Ärzte in der Notaufnahme und die Polizisten an seinem Krankenbett mit Fragen bombardierten –, hat er geschwiegen. Er hatte kein Sterbenswörtchen verlauten lassen, gegenüber niemandem, aus Aberglauben, aus Furcht, wenn er jemanden ins Vertrauen zöge, müsste er das Vergangene noch einmal durchleben. Er suchte Zuflucht im Stillschweigen.
    »Alle Lampen in der Station gingen an ... es war ein Brand ... und ER war da ... ER kam sie holen ... Alice hat geschrien ... ich wollte sie beschützen, aber seine Pistole ... dieses Feuer in meinem Bauch ... und Blut ... überall Blut ... ich habe geglaubt, ich würde sterben.«
    Unwillkürlich berührte er mit der Hand die Stelle, wo die Kugel in seinen Körper eingetreten war. Er drückte auf die Narbe, als wollte er sich davon überzeugen, dass die Verletzung auch wirklich da war. Diese alte Wunde, die ihm bei jedem

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