Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
Vom Netzwerk:
Wetterumschwung starke Schmerzen bereitete. Diese Wunde, die seine einzige Verbindung zur Außenwelt war, zu der kleinen Ausreißerin mit den blonden Haaren, die für ein paar Tage seine Einsamkeit erhellt hatte.
    »Als ich aufwachte ... war es wieder dunkel ... und seitdem warte ich ... ich warte darauf, dass sie zurückkommt, damit ich sie beschütze ...«
    Er hob ein behelfsmäßiges Messer auf, das aus Matratzenfedern, die an einem kleinen Holzstab befestigt waren, gefertigt worden war.
    »Meine einzige Waffe ... ich habe hier nicht viel, womit ich sie beschützen könnte. Vielleicht kommt sie deshalb nicht ...«
    »Wie sah dieser Polizist aus? Dieser ER, von dem Sie sprechen?«
    »ER hatte das Gesicht eines Dämons ... Er hinkte wie der Teufel ... Ich konnte nichts tun ... nichts ...«
    Schluchzer verschluckten seine Worte. Aus Scham wandte sich Blandine von dem alten Mann ab. Sie dachte an Alice, die in diesem Labyrinth ausgesetzt worden war und vor diesem ER mit seinen vielfältigen Facetten geflohen war. Alice hatte nur bei anderen Verlorenen Zuflucht gefunden. Die trotz Feuchtigkeit und Salpeterausblühungen erhalten gebliebene Inschrift hörte sich jetzt an wie ein Grabspruch:
    »ER wird mich töten.«

52
Paris,
Boulevard Saint-Michel,
Mordkommission
    »Das ist erstaunlich ...«
    Der Grafologe schüttelte den Kopf, als er die Schlüsselpunkte an den Buchstaben anstrich. Unter den Fenstern des Büros erhitzten sich die Demonstranten, zusammengedrängt von Kohorten der Bereitschaftspolizei. Paris ließ seine Muskeln spielen, um Ärger und Wut Luft zu machen. Schwarzfleckige französische Fahnen flatterten in den Sträuchern wie für eine Totenwache.
    Darauf wartend, dass er die Analyse dessen, was sie ihm mitgebracht hatte, beendete, betrachtete Blandine den Boulevard Saint-Michel. Wie lange hatte sie nicht geschlafen und nichts gegessen? Sie roch den sauren Schweiß und den Dreck. Zerrissene, schmutzige Kleidung. Die verbrauchte, mit Kohlenmonoxid gesättigte Luft der U-Bahn-Röhren verstopfte weiterhin ihren Rachen und ihre Lungen. Nur ihre Waffe und ihre Dienstmarke vermittelten ihr noch die Illusion, Polizistin zu sein. Der Eifer, der die Menge einte, ließ sie ihr Gefühl der Einsamkeit umso deutlicher spüren. Sie wollte nicht an Paul denken, der in einem Bett lag und darauf wartete, in ein Grab überführt zu werden. Oder ins Leben? Ihr Herz schlug stärker.
    Nein, sich nicht an die Hoffnung klammern. Sich nicht an diesem allzu vertrauenswürdigen, allzu unsicheren Griff festhalten. Nicht das Risiko eingehen, noch tiefer zu fallen.
    Sich mit dem Rausch begnügen und warten.
    Der Grafologe setzte seine Brille ab und sah zu Blandine auf.
    »Wo, sagten Sie, haben Sie diese Kritzelei noch entdeckt?«
    »In der Metro. Sie befand sich an einer Wand.«
    »Könnten Sie mir etwas mehr darüber sagen, damit ich mir die Umgebung vorstellen kann?«
    »Nein, tut mir leid.«
    Perry hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie nichts von dem Schlupfwinkel, den Katakomben eines neuen Zeitalters verraten werde. Sie hatte es ihm geschworen.
    »Haben Sie keine deutlicheren Aufnahmen?«
    »Ich habe dieses Foto mit einem Wegwerfapparat gemacht.«
    Altersschwacher Kasten wäre zutreffender gewesen, sagte sie sich, als sie an die Polaroid-Kamera dachte, die Perry aus einem Haufen Plunder gefischt hatte.
    Der Grafologe seufzte, scannte das Foto ein, richtete es auf seinem Rechner neu aus und legte eine durchsichtige Plastikfolie in den Drucker. Blandine schaute ihm dabei zu und fragte sich, ob er ihr irgendetwas Neues mitteilen könnte. Bislang hatte er nur das bestätigt, was ihr Perry gesagt hatte.
    Der Grafologe legte das ausgedruckte Foto behutsam auf einen Overheadprojektor und entnahm einer kartonierten Aktenmappe ein anderes Foto, das er neben das erste legte.
    »Ich muss Ihnen etwas zeigen. Würden Sie das Licht ausschalten?«
    Ein Blitzlicht erhellte das Zimmer. Zwei Schriftzüge wurden übergroß an die Wand geworfen. Blandine traute ihren Augen nicht.
    ›ER wird mich töten. Helft mir‹ war auf der rechten Seite zu lesen, und dieser Schriftzug deckte sich mit der Inschrift, die Blandine in der Metrostation Haxo gefunden hatte: ›ER wird mich töten.‹ Sie näherte sich, fuhr die Großbuchstaben mit dem Finger nach und wandte sich, ungläubig, zu dem Grafologen um.
    »Was bedeutet das?«
    »Ich dachte, Sie könnten mir das sagen.«
    Er legte eine Folie mit Millimeter-Einteilung auf den

Weitere Kostenlose Bücher