Die elfte Jungfrau
nach welchen Maßgaben der Schreinemaker seine Opfer wählt. Wer ist sie? Lebt sie noch? Hat sie je gelebt? Oder ist sie nur eine Vorstellung? Wie dem auch sei - für alle anderen muss sie eine Heilige sein, aber durch das, was sie von ihm fordert, wird sie zur Höllengestalt.«
Er lehnte sich wieder mit dem Rücken an den Stamm.
»Ich fange wahrhaftig an, an Dämonen zu glauben!«, erklärte er den Zweigen über ihm, und ein einzelner Wassertropfen traf seine Stirn.
»Früher hätte ich gelacht, aber ich fürchte, inzwischen habe ich erkannt, welche erschreckenden Auswirkungen die Bilder haben, die der Glauben erzeugt.«
Ivo lachte grimmig auf. Er, der zwar nicht Gott, wohl aber Heilige und Dämonen leugnete, hatte festgestellt, dass es sie wirklich gab. Und dass Menschen sie brauchten - die Dämonen wie die Heiligen.
»Wie die Begine beispielsweise, die zu ihrer barmherzigen Mutter spricht.« Diesmal war sein Lachen nicht grimmig, sondern voll Heiterkeit. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie mit ihr disputiert. Ihre Maria ist eine verständnisvolle Mutter, die ihre Tochter auch schon mal auf die Nase fallen lässt, die ihr aber nicht die Flügel beschneidet durch dümmliche Vorschriften. Ja, Menschen brauchen so etwas«, erklärte er der alten Eiche, und ein Sprühregen netzte sein erhobenes Gesicht. »Genau wie ich, scheint’s!«
Er dachte an die Holzfigur in seiner Kammer, die Bertram ihm, bevor er aufgebrochen war, überreicht hatte. Feingemasertes, fast goldfarbenes Holz hatte er verwendet, und mit der ihm eigenen Genialität hatte er die Maserung zum Formen des reichen Faltenfalls des Gewandes genutzt. Aufrecht hielt die Madonna ihr Haupt, ihren Blick nach rechts oben gerichtet und fast ein klein wenig so verschmitzt wie das pfotenputzende Kätzchen, das er von dem jungen Künstler gesehen hatte. Unbedeckt flossen die langen, lockigen Haare über ihren Rücken, nur gehalten von einem Kranz aus Rosen. In den Händen hielt die Rosa mundi drei Blüten. Was aber Maria, die geheimnisvolle Rose, besonders auszeichnete, war die Tatsache, dass der kunstreiche Bertram ihr das Gesicht einer grauen Begine gegeben hatte.
Ivo schloss die Augen, lehnte die Stirn an den borkigen Stamm und flüsterte dem Baum zu: »Denn siehe, ich bin heimgekehrt, Eiche. Ich bin mit meinem Weberschiffchen am Ende des Musters angekommen. Es ist tatsächlich jetzt an mir, einen neuen Faden zu nehmen. Es soll sich nicht wiederholen, die Demütigung und der Hass. Weder für mich noch für sie. Ich schwöre, Eiche, ich werde sie nie einengen oder ihr Grenzen setzen.«
Als Ivo wieder aufschaute, zog eine Sternschnuppe ihren glitzernden Schweif über das samtblaue Firmament. Und der hornhäutige Ketzer verspürte bei diesem Glück verheißenden Omen eine Hoffnung, die nur aus tiefstem Vertrauen und Glauben an eine gütige Macht entstehen kann.
45. Kapitel
O meine Herrin, heilige Maria! Ich berge meine Seele und meinen Leib, ich berge mich in deine gesegnete Obhut, in deinen besonderen Schutz und in den Schoß deiner Barmherzigkeit.«
Erschöpft kniete Almut beinahe zur selben Zeit zum Gebet nieder. Am Nachmittag hatten sie Lissa zu Grabe getragen, und es war zu schrecklichen Szenen gekommen. Nicht nur Trauer herrschte unter den Teilnehmern, sondern auch Dutzende von Vermutungen und Gerüchten schwirrten umher. Anschuldigungen und böse Worte über leichtsinnige Mädchen, üble Gesellschaften im »Adler«, verantwortungslose Beginen und nachlässige Waschweiber waren laut geworden. Fast wäre es noch zu einer Schlägerei gekommen, denn der Kalfaterer hatte versucht, Alfi die Schuld an Lissas Tod zu geben. Nur das beherzte Eingreifen des Schmieds hatte die Prügelei am Grab des Mädchens verhindern können.
»Ich berge mich heute und für jeden Tag und für die Stunde meines Hinscheidens in dir, Maria.«
Es war spät geworden, und durch die offenen Läden des Fensters fiel das Licht des sich rundenden Mondes. Marias geduldiges Antlitz wirkte lindernd auf Almuts aufgewühlte Gefühle.
»Sie wollen Lissas Tod nicht untersucht wissen. Die Adler-Wirte nicht, weil es an ihnen hängen bleiben könnte, Alfi nicht, weil auch er schon einmal im Turm saß, die Mutter nicht, weil sie sich schämt, der Schwager nicht, weil er zu blöd ist, und die ältere Schwester nicht, weil sie wieder zurück in ihr Dorf will. Und ich darf es nicht. Aber morgen, Maria, gehe ich zu Meister Krudener. Mit ihm kann ich reden.«
Die Nacht war vollkommen still,
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