Die elfte Jungfrau
und oft genug hatte er sich vorgestellt, sie brutal zu schänden und dann zu erwürgen.
Leidenschaft gepaart mit Hass konnte einen Mann zum Mord treiben.
Nach zwei Jahren hatten man ihn auf Grund seiner Kenntnisse der fränkischen Sprache ins Elsass geschickt, um Übersetzungen vorzunehmen. Damals war es ihm gleichgültig gewesen, wo er sein Leben verbrachte, aber nun gedachte er des alten Abts, Vater Denis, der ihn in wahrhaft väterlicher Manier aufgenommen hatte, mit großer Wärme. Er hatte ihn mit Arbeit und Büchern versorgt, ihm immer neue Aufgaben gestellt, ihn dazu getrieben, sich zum Priester weihen zu lassen, damit er innerhalb des geistlichen Lebens eine größere Freiheit bekam, und ihn schließlich zu seinem Adlatus gemacht.
Der Hass auf die Frau hatte nachgelassen, der Hass auf sich selbst nicht.
Dann, vor vier Jahren, war der Abt, nun schon weit über achtzig, erkrankt, und sein Ende war absehbar. In den vielen Stunden, die Pater Ivo an seinem Siechenlager saß, hatte er ihn einmal gebeten, ihm zu beichten, was sein Herz so zerfraß. In der Stille einer Sommernacht hatte er dem alten Mann von seiner Verfehlung und der Strafe berichtet. Noch immer erinnerte er sich an die Worte, die ihm Vater Denis dann mitgab: »So gilt dir die von mir als einem Priester erteilte Absolution nichts, aber als Freund magst du meinen Worten vielleicht Vertrauen schenken, Ivo. Glaub mir, du wirst Erlösung finden, wenn du die Verbitterung über dich selbst verlierst.«
Der Abt hatte noch an Theodoricus geschrieben und Ivo im Sterben das Versprechen abgenommen, nach Köln zurückzugehen. Er folgte dieser Bitte, doch die Bitterkeit hatte er mitgenommen. Erst im letzten Jahr war sie mehr und mehr gewichen.
Das Abendrot war nun verblichen, aber auch die dunkle Wolke am Horizont hatte sich aufgelöst, und die ersten Sterne erschienen flimmernd im Blau.
Ivo vom Spiegel löste sich vom Stamm der Eiche und ging einige Schritte am Zaun auf und ab. Einen Schluss konnte er aus seinen durch die Vergangenheit schweifenden Gedanken ziehen: Sollte Claas einen ähnlichen Hass verspüren, dann war er auch einmal zutiefst gedemütigt worden. Möglicherweise wollte er sich an den Frauen rächen, die den Vorstellungen, die er sich von ihnen machte, nicht entsprachen.
»›Wo viele Träume sind, da ist viel Eitelkeit‹, das würde die Begine vermutlich jetzt zitieren. Aber der Prediger hat Recht. Vorstellungen, Illusionen die man sich von anderen macht, Ansprüche, die man daraus ableitet, können gefährlich werden.«
Er wusste heute, er hatte sich einst selbst belogen. Seine Geliebte war eine egoistische, auf den eigenen Vorteil bedachte Frau, und er war im Rausch der Leidenschaft auf sie hereingefallen.
Und dann enttäuscht worden.
Hatte es eine leidenschaftliche Frau in Claas’ Leben gegeben? Die Frage würde man beantworten müssen. Aber wenn, dann nur in der Heimlichkeit, denn der Schreinemaker war in einem überaus frommen Haushalt aufgewachsen, im Gegensatz zu dem freigeistigen Klima, das in dem Haus derer vom Spiegel geherrscht hatte.
»Aber Leidenschaft sucht ihren Weg. Es muss nicht Hass sein, sie kann auch in leidenschaftliche Frömmigkeit umschlagen. Oder in eine leidenschaftliche Suche nach Vollkommenheit«, verriet Ivo der Eiche und wurde mit einem neuen Schauer von Tröpfchen belohnt.
Er nahm das als Zustimmung und vertiefte diesen Gedankengang.
Da mag es für ihn das hehre Vorbild der frommen, keuschen Frau geben, das die Mädchen nicht erfüllten. Die kecke Zöllnerstochter, die verliebte Seidweberin, die sicherlich sehr zugängliche Gänsemagd, die trotzige Schiderich, die scheue, aber nachgiebige Buchmalerin, die ehrbare, aber übermütige Parlerstochter, die leichtfertige Stiftsjungfer und die schwärmerische Novizin - sie alle hatten sich willig verführen lassen. Hatten sie deswegen seinen Vorstellungen nicht entsprochen? Mussten sie deshalb sterben? Ein normaler Mann, der nur seinen Spaß mit den Jungfern haben wollte, hätte sie einfach fallenlassen können, nachdem er sein Ziel erreicht hatte. Die Mädchen hätten die Schande schon geheim gehalten. Aber die Dämonin forderte ihren Tod.
Ivo ging einmal um den Baum herum und sah dann zur Krone hoch.
»So habe ich nur das Wirken der Dämonin erklärt, nicht aber, welches die Forderungen sind, die sie an die Jungfrauen stellt. Keuschheit allein kann es nicht sein, etwas anderes bestimmt die Wahl. Erst wenn die Dämonin einen Namen hat, werden wir wissen,
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