Die elfte Jungfrau
die Vögel ruhten, der Wind hatte sich gelegt, und die meisten Menschen schliefen bereits fest in ihren Betten. Nur ganz von ferne hörte man den Nachtwächter die Stunde ausrufen.
»Warum Lissa, heilige Mutter? Warum dieses unscheinbare Wäschermädchen? Was hat den Schreinemaker an ihr angezogen? Wenn ich das nur wüsste, Maria.«
Im silbrigen Mondlicht schien Maria ebenso nachdenklich dreinzusehen, wie Almut sich fühlte.
»Es verbindet die Mädchen etwas. Ganz bestimmt verbindet sie etwas. Ich will noch einmal überlegen. Ihr Stand und ihre Herkunft sind es nicht. Auch ihr Charakter nicht, es gibt kecke und scheue, kluge und törichte, keusche und leichtfertige. Es muss etwas vollkommen anderes sein. Die Dämonin, die an Claas nagt, sieht er in jeder von ihnen. Die Jungfräulichkeit ist das eine. Die Frömmigkeit? Nein, die nicht.«
Almuts Blick fiel auf das Andachtsbildchen, das sie zwischen Lissas Hemden gefunden hatte. Die Mutter konnte sich nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben. Aber sie war sich sicher, Esteban würde es wiedererkennen. Die heilige Ursula, pfeildurchbohrt, und allem Anschein nach von Christine gemalt. Ihr kunstvoller Stil war darin wiederzuerkennen. Ursula hatte sie augenscheinlich gerne gemalt. Auch bei ihren Skizzen hatte es Szenen aus dem Leben der Märtyrerinnen gegeben. Nun ja, es war ein gewinnträchtiges Motiv in Köln. Oder lag dem etwas anderes zu Grunde?
»Ursula, die jungfräulich in den Tod ging. Ob das Christines Vorbild war? Sie hatte nicht geheiratet, angeblich, weil sie sich um den Vater kümmern musste. So wie Lena ihre Mutter pflegte«, vertraute Almut Maria an. »Sah Claas darin eine Verbindung? Nein, das passt überhaupt nicht bei der Sibill oder der Gänse-Ursel.«
Still rückte Almut die Mariengestalt ein wenig weiter in den Lichtstrahl des Mondes und berührte mit sanften Fingerspitzen ihr Gesicht. Sie dachte an die fertiggestellte Marienstatue, die Bertram ihnen übergeben hatte.
»Er hat es gut eingefangen, Maria. Deine Kraft und deine Ruhe, dein Verständnis und manchmal auch deinen starken, unbeugsamen Willen. Und die Kraft, Schmerzen zu ertragen. Ein wahrer Künstler, der Junge. Dagegen sind Claas’ Arbeiten reines Handwerk.«
Almut lehnte sich wieder zurück und ließ ihren Blick durch das Fenster fallen. Wolkenlos und sternenklar war die Nacht.
»Mist, Maria!« Der Ausruf kam von Herzen. »Maria, er hat ein Andachtsbildchen der Ursula an Lissa gegeben, er hat der Schiderich ein Reliquiar mit einem Knochensplitter der Ursulajungfrauen geschenkt. Und auf dem Amulett, das die Novizin in ihrem Brevier hatte, stand ein Gebet an die heilige Ursula. Das zumindest verbindet die drei miteinander. Und die anderen?«
Almut war aufgestanden und schritt aufgewühlt in ihrem Zimmerchen auf und ab.
»Eine Stiftsjungfer von Sankt Ursula. Und die Gänse-Ursel. Ist das verrückt von mir, Maria, hierin einen Zusammenhang zu sehen?«
Als sie sich wieder hinkniete, stieß sie an den Tisch, und die Bronzestatue wackelte leicht. Es machte den Eindruck, als verneine sie die Frage.
»Nein? Ich sollte den Gedanken weiterverfolgen? Nun gut! Also - gibt es bei den anderen auch eine Beziehung zur Ursula?«
Almut ging die verschiedenen Begegnungen durch, die sie mit Claas und seinen Opfern gehabt hatte. Die jüngste fiel ihr zuerst ein.
»Wahrhaftig, Maria! Lissa hat, als wir diesen Auftritt mit Pater Leonhard hatten, dem Schreinemaker von der Legende erzählt, die sie gerade gelesen hatten. Er äußerte sich über seine Verehrung der Märtyrerinnen. An gleicher Stelle begegnete ich ihm zusammen mit Sanna. O ja, Sanna wollte an dem Tag, als Bertram auf dem Alten Markt seinen Anfall hatte, zu Sankt Ursula gehen, um für eine kranke Base oder so zu beten. Claas begleitete sie und Florens. Das sind jetzt sechs Jungfern, die irgendetwas mit der heiligen Ursula zu tun hatten. Aber die anderen? Die Maike und die Lehrtochter der Seidweberin kenne ich nicht. Aber die Sibill. Sie war die Dritte, soweit wir heute wissen. Sie starb vor der Gänse-Ursel, irgendwann im Herbst. Und nach der Gänse-Ursel die Gisela. Deren Vater zur Ursulabruderschaft gehörte. Ei wei! Das passt ja auch. Und die Buchmalerin passt auch, denn sie hat die Bilder gemalt. Und - Maria, weise Raterin - sie hat sogar ein Porträt von Claas gemalt!«
Mit der flachen Hand hatte Almut auf den Tisch geschlagen, und das Mondlicht blitzte in Mariens Antlitz auf.
»Bleibt die Sibill...«
Noch einmal dachte
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