Die elfte Jungfrau
sah in das offene und anständige Gesicht ihrer jungen Freundin und überlegte, ob es ihr gelingen würde, einem Menschen die Gefährlichkeit des gesprochenen Wortes klarzumachen, der sich in seiner Beurteilung anderer auf den Gesichts- und Geruchssinn und vielleicht noch einigen weiteren, sehr subtilen Formen der Wahrnehmung beschränken musste. Die Wirkung böser Gerüchte entzog sich Trines Vorstellungskraft. Resigniert hob Almut die Schultern und beschloss, darüber mit Meister Krudener selbst zu sprechen. Stattdessen lenkte sie auf ihr eigentliches Anliegen zurück und gab Trine einige Ratschläge, die sich auf den Umgang mit jungen Männern bezogen. Trine nahm sie geduldig an, aber als Almut geendet hatte, fragte sie: »Warum erzählst du mir das alles? Wenn es doch so ist, dass man sich eines Tages verliebt, dann kann man sich nicht dagegen wehren. Auch nicht, wenn man darunter leiden muss.« Und dann streichelte sie plötzlich Almuts Hände. »Du kannst doch auch nichts dagegen tun.«
»Trine!« Almut wollte auffahren, aber dann fand sie zu ihrer eigenen Ehrlichkeit zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich auch nicht.«
»Weil es dir weh tut - ist es deshalb, warum du dich mit mir drüber unterhalten wolltest?«
»Nein. Es ist noch etwas mehr.« Plötzlich hatte Almut das Gefühl, das Kind beim Namen nennen zu müssen und ihre Befürchtungen offenzulegen. Also sprach sie von den getöteten Jungfrauen und Rigmundis’ Vision.
»Darum habe ich Angst um dich, Trine. Weil - wenn es wirklich diesen Mann gibt, den ein böser Geist umtreibt, dann bist du ein leichtes Opfer.«
Trine sah mit einem Lächeln auf.
»Aber, Almut, du weißt doch, ich kann die Menschen mit guten oder bösen Herzen unterscheiden.«
»Ja, das weiß ich. Was ich nicht weiß, ist, ob du es noch kannst, wenn die Liebe deine Sinne verwirrt.«
»Aber da man sich gegen die Liebe nicht wehren kann...«
»...solltest du wenigstens meinen oder Meister Krudeners Rat annehmen, wenn es so weit ist, auch wenn er dir nicht gefällt.«
»Gut. Das verspreche ich dir!«
Etwas erleichtert über Trines williges Versprechen und im Vertrauen auf ihren klugen Kopf, schlug Almut vor, sich wieder ins Refektorium zu begeben.
Hier hatten sich inzwischen Pitter, Lena und Bertram eingefunden, und - erstaunlicherweise - auch Claas Schreinemaker. Er saß neben Magda und verspeiste ein Stück Schweinebraten, während er ihren Worten lauschte. Die Meisterin winkte Almut zu sich, und Trine setzte sich ihnen gegenüber an den langen Tisch.
Der Schreinschnitzer legte Brot und Braten auf das Holzbrett vor sich und schenkte Almut sein fröhliches Lächeln.
»Es scheint, als hättet Ihr mir einen guten Leumund ausgestellt, Frau Almut. Eure Meisterin hat mir einen höchst interessanten Vorschlag unterbreitet.«
Magda hatte Almuts Idee, in der Kapelle einen geschnitzten Schrein aufzustellen, der die vergoldete Marienstatue aufnehmen sollte, die derzeit in ihrer Kammer stand, durchaus für gut befunden. Als Lena, die zum Essen ebenfalls erwartet wurde, höflich anfragte, ob sie ihren Bruder mitbringen dürfe, hatte sie die Gelegenheit genutzt, sich ein Bild von dem so gelobten Handwerker zu machen. Sie wirkte recht zufrieden mit dem Ergebnis und hatte augenscheinlich schon konkrete Vorschläge unterbreitet.
»Einen Schrein mit Spitzbogen, senkrecht stehend, mit zwei Flügeln zum Aufklappen! Über die Vergoldung können wir später befinden«, erläuterte er gerade. »Aber, Frau Almut, darf ich Euch um einen großen Gefallen bitten? Ich würde sehr gerne die Figur sehen, die er beherbergen soll. Wisst Ihr, es ist eine Frage der Größe und Proportionen. Es soll ja als Ganzes harmonisch wirken.«
Almut sah sich fragend um. Es widerstrebte ihr, die Marienstatue in das laute, von Essensgerüchen durchzogene Refektorium zu bringen. Magda schien ihr Zögern zu verstehen und schlug vor: »Bring sie in mein Zimmer, Almut. Dort können wir sie mit mehr Ruhe betrachten.«
Das taten sie auch sehr gründlich und hörten sich die überaus fantasievollen Vorschläge des Schreinschnitzers an. Magda wirkte nach außen hin kühl und sachlich, aber Almut bemerkte eine gewisse Begeisterung für das Vorhaben. Sie selbst war ebenfalls angetan von den Vorstellungen, die Claas Schreinemaker entwickelte, aber schließlich war sie froh, ihre kleine Statue wieder zurückbringen zu können.
Im Refektorium hatte sich Trine inzwischen zu Bertram gesetzt und sich ihm auf ihre
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