Die elfte Jungfrau
unnachahmliche Weise verständlich gemacht. Sie war dabei gewesen, als er Meister Krudener konsultiert hatte, und fragte ihn nach seinem Zustand aus. Lena beäugte die beiden misstrauisch, vor allem, als Trine ihrem Sohn die Hand auf die Stirn legte. Gerade wollte sie eingreifen, aber Almut kam ihr zuvor.
»Lasst sie, Frau Lena. Wenn einer helfen kann, dann Trine.«
»Sie wird meinen Jungen verwirren.«
»Nein, das wird sie nicht. Sie hat heilende Hände.«
»Wirklich?«
»Ich weiß es aus eigener Erfahrung.«
»Schwester Lena, sei nicht so überängstlich!«, mischte sich jetzt auch Claas ein. »Was soll es schon schaden, wenn ein hübsches Mädchen dem Bertram über den Kopf streicht?«
Er zwinkerte Trine zu, und die grinste zurück. Lena ließ sich beruhigen und nahm noch eine Schnitte Früchtebrot.
Pater Leonhard jedoch schien immer ungehaltener zu werden und gab Almut einen Wink, sich wieder an seine Seite zu setzen. Belustigt von den Erkenntnissen, die Trine ihr vor Kurzem vermittelt hatte, folgte sie diesem Befehl und setzte sich auf die Bank neben ihn, um zu hören, was er ihr zu sagen hatte.
»Ihr solltet nicht so vertraulich tun mit diesem Schreinschnitzer, Frau Almut. Er ist ein Verführer, wenn ich je einen gesehen habe.«
»Keine Sorge, ich lasse mich nicht von jedem gut aussehenden Mann verführen.«
»Ihr lächelt ihm zu, und Eure Gedanken sind Euch hell auf die Stirn geschrieben.«
»In der Tat. Und was lest Ihr darin?«
Sein warmer Atem streifte ihre Wange, als er nahe an ihrem Ohr flüstere: »Sie befassen sich mit der Sünde!«
»O ja. Mit einer sehr, sehr süßen Sünde!«, bestätigte Almut und brach sich noch ein kleines Stückchen Honigbrot ab. Dann stand sie auf und entfloh dem engen Kontakt mit Pater Leonhards Schenkeln und setzte sich an Rigmundis’ Seite.
Das Essen endete erst, als die Dunkelheit schon hereingebrochen war, und Almut wankte, nachdem sie Gertrud noch beim Abräumen und Verstauen der Reste geholfen hatte, überaus gesättigt und angenehm müde in ihre Kammer.
Doch als sie sich entkleidet und zu Bett begeben hatte, fand sie keinen Schlaf. Zu sehr drückte sie das schwere Essen im Magen.
Oder waren es einige unverdauliche Gedanken?
Sie stand auf und vertraute sich Maria an, der Menschen Trösterin.
»Gegrüßet, du in den unsagbaren Ratschluss Eingeweihte, gegrüßet, du Vertraute mit Dingen, denen Verschwiegenheit gebühret, gegrüßet, du Brücke für Irdische in den Himmel, gegrüßet, du unter den Engeln viel besprochenes Wunder... Maria, verzeih, ich bin wankelmütig. Ich wollte einen Schrein für dich, und nun, wo mir dieser Wunsch erfüllt, will ich dein Abbild nicht hergeben. Ich will dich hier in meiner Kammer behalten, ganz alleine für mich.«
Mondlicht fiel durch das Fenster und lag schimmernd auf dem Gold der Statue. Almut betrachtete sie wehmütig.
»Ich bin undankbar, himmlische Rose. Habe ich nicht alles, was mein Herz begehrt? Ein Heim, eine Arbeit, die mir Freude macht, reichlich zu essen, ein warmes Bett und das Vertrauen unserer Meisterin. Freunde und Familie... Und ein wehes Herz, o Jungfrau voll der Gnaden.«
Ein Seufzen, tief empfunden, unterbrach das stille Gebet.
»Dabei kann ich noch nicht einmal darüber klagen, es gäbe keine Möglichkeiten. Florens Steinheuer ist ein netter junger Mann und bestimmt leicht zu führen. Leichter als jener Schreinemaker, der es auch recht gut versteht, sich mir gefällig zu zeigen. Pah, und sogar Pater Leonhard. Dieser bigotte Schleimer. Hat er mir doch wirklich den Vorschlag gemacht, seine Haushälterin zu werden! Mit Auflagen. Trottel, der! Mit meiner Schwester dürfe ich mich aber dann nicht mehr treffen. Das sei kein Umgang, eine maurische Hure. Weder für eine Begine noch für eine diensteifrige Hausbestellerin. Und ich dürfe nicht mehr solch verwerfliche Stellen aus der Bibel lesen. Clara hat er doch glatt verboten, weiter Übersetzungen anzufertigen! Aber sie hat mir heute noch ein paar neue Zeilen gegeben. Selbstverständlich werde ich sie lesen. Und wenn ich dich anschließend mit hundert Vaterunsern langweilen muss, du aller Jungfrauen Lampe.«
Mariens Antlitz lag im blassen Licht des Mondes und schien auf seltsame Weise eine leise Belustigung auszudrücken. Almut spürte ein Kichern aufsteigen.
»Ei wei, unser Pitter hat den Pater Leonhard aber arg ins Schwitzen gebracht. Ursula hat von dem Hungertuch berichtet, und er hat uns das Gleichnis von den zehn Jungfrauen erzählt.
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