Die elfte Jungfrau
Fabio behauptet, sie sei vor einen Wagen gestoßen worden.«
»Hab’ ich nichts von mitbekommen. Aber ich hör’ mich um. Was glaubt Ihr, Frau Almut - bringt da jemand die Mädchen um?«
»Ja, ich fürchte fast, es ist so. Und ich habe Angst.«
»Es waren alles Jungfrauen, Frau Almut. Oder wisst Ihr auch von verheirateten Frauen oder Huren?«
»Nein. Oder besser, die, die gestorben sind, waren krank oder alt. Zumindest von denen ich weiß.«
»Oder haben ihren Kopf verloren wie Frau Bettina.«
»Ja, oder das.«
Sie waren am Haus des Parlers angekommen, und Almut sah den Gassenjungen in seinem geflickten, ausfransten Wollumhang ernst an.
»Ich kümmere mich jetzt erst einmal um die Steinheuerin. Aber, Pitter, ich würde gerne mit dir noch einmal zusammen über diese Angelegenheit nachdenken. Vor allem würde ich gerne wissen, wen all diese Mädchen gemeinsam gekannt haben.«
»Mit mir wollt Ihr darüber nachdenken?«
Pitter schwoll unter dem fadenscheinigen Umhang geradezu an vor Stolz.
»Du bist ein kluger Kopf, Päckelchesträger. Und ich wüsste im Augenblick niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen könnte.«
»Klar, Euer Pater ist ja auch nicht in der Stadt.«
»Eben!«
»Mann!«, stieß Pitter hervor und vollbrachte einen höflichen, wenn auch wackeligen Kratzfuß. »Ihr könnt auf mich zählen, edle Dame!«
»Dann wollen wir uns morgen nach der Messe treffen. Komm bei uns vorbei, noch ist keine Fastenzeit, und ich glaube, Gertrud wollte eine Wurstsuppe kochen.«
»Hochedle Dame!«
Pitter verschwand, und Almut klopfte an die Tür. Eine Magd mit verquollenen Augen öffnete ihr, und sie mutmaßte, es müsse sich um die saumselige Rosi handeln, der die Parlerstochter so leicht entwischen konnte.
»Ich bringe eine Arznei für deine Herrin. Führ mich zu ihr!«, bat sie das Mädchen, das ihr schweigend den Weg in die Stube zeigte. Hier hatten sich schon etliche Frauen versammelt, die versuchten, der vollkommen erschütterten und hysterisch schluchzenden Mutter Beistand zu leisten. Unter ihnen befand sich auch Frau Barbara. Sie sah auf und ging mit ausgestreckten Händen auf Almut zu.
»Danke, dass du kommen konntest. Es ist so schrecklich.«
»Ich habe ein beruhigendes Mittel mitgebracht. Lasst uns versuchen, es ihr einzugeben.«
Das strenge Beginen-Gewand und Almuts ruhige, aber bestimmte Art brachten die Frauen dazu, mit dem Klagen und Jammern und auch dem Getuschel aufzuhören. Die Steinheuerin saß neben ihrem Sohn Florens zusammengesunken auf der Bank vor dem Kamin und starrte mit rot geriebenen Augen ins Leere. Ihre Haare fielen wirr und strähnig auf ihre Schultern, sie hatte die Haube abgenommen und drehte den Schleier immer wieder zwischen den zitternden Händen zusammen.
»Trinkt das bitte!«, forderte Almut sie auf und reichte ihr einen Becher mit dem Fingerkrautauszug. »Es hilft nicht gegen die Trauer und den Schrecken, aber es löst die Krämpfe, die Euch schütteln.«
Die Frau sah zu Almut auf, und langsam wurde ihr Blick ein bisschen klarer.
»Meister Conrads Tochter. Die seid Ihr doch?«
»Ja, ich bin Almut. Ihr kennt mich, nicht wahr?«
»Sanna hat viel von Euch erzählt. Sie sagt, die Trine mag Euch.«
»Trinkt!«
»Ja.«
Die Steinheuerin schluckte gehorsam die reichlich bemessene Menge der Flüssigkeit und nahm dann Almuts Hände.
»Die Trine. Sie war Sannas Freundin.« Plötzlich schrie sie auf: »Heilige Mutter Gottes, achtet auf sie!«
»Ich hole sie, so bald ich kann, zu uns in den Konvent.«
»Es muss ein Ungeheuer in der Stadt geben. Meine Sanna war ein gutes Kind. Sie war ein so freundliches Mädchen, nie hat sie jemandem etwas Böses gewünscht. Warum hat er ihr das angetan?«
»Ja, es muss ein Ungeheuer sein. Habt Ihr den Turmmeister verständigt?«
Frau Barbara übernahm es zu antworten, denn die trauernde Mutter war wieder in Tränen ausgebrochen.
»Dein Vater und der Parler sind zum Turm und zur Wache gegangen. Man wird alles daran setzen, den Tod des Mädchens aufzuklären. Es könnte ja auch ein Unfall gewesen sein.«
Almut schwieg dazu.
Leise, damit die anderen Frauen es nicht hörten, fragte ihre Stiefmutter: »Du glaubst nicht?«
»Nein.«
»Warum?«
»Was ist mit Gisela Schiderich wirklich passiert, Frau Barbara?«
»Oh... Ich verstehe. Ja, erst hat man geglaubt, sie hätte mal wieder einen Streit mit der Frau Herwiga gehabt. Zwischen den beiden herrschte Zank, seit der Schiderich sie vor zwei Jahren geheiratet hat. Es war keine
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