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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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einer Pompadourfrisur, ihre hellen Brauen, zu zwei Flügeln gezupft, sind
    dunkel nachgezeichnet, die Augen schwarz getuscht bis auf die äußersten, noch blonden Wimperhärchen. Wolkenlicht gleitet schräg über ihr Gesicht, nimmt ihm die Farbe, läßt nur ein lebloses Photo zurück, wie es in einen Paß geklebt sein könnte. "Und du warst so weit weg damals ... ich konnte dich nicht erreichen." Damals. Etwas wie Bedauern zieht über ihr Gesicht, verschwindet wieder. Aber ihr Flüstern ist tödlich und hell wie plötzlicher Draht: "Vielleicht kommst du dahinter. Vielleicht in einer ihrer ausgebombten Städte, am Rande eines ihrer Flüsse oder Wälder, vielleicht eines Tages mitten im Regen wird es dich finden. Du wirst dich an den Himmler-Spielsaal erinnern und an das Kleid, das ich dort trug ... die Erinnerung wird tanzen für dich, und du wirst ihr sogar meine Stimme geben und mich sagen lassen, was ich damals nicht sagen konnte. Oder jetzt." Oh, was ist es, das sie ihm hier zulächelt, nur diese Sekunde? schon vorbei. Wieder die Maske ohne Glück und Zukunft, der Ruhezustand ihres Gesichts, bevorzugt, am bequemsten ... Sie stehen zwischen schwarzen, verschnörkelten Eisenskeletten von Bänken in der leeren Kehle dieser Esplanade, die steiler geschrägt ist, als es die Strudel je erfordern werden: schwindelerregend in ihrem Versuch, sie in das Meer zu kippen, sich ihrer und all dessen zu entledigen. Der Nachmittag ist noch kälter geworden. Keiner von ihnen kann sein Gleichgewicht lange halten, alle paar Sekunden sucht der eine oder der andere neuen Stand. Slothrop faßt nach Katje, stellt ihr den Mantelkragen hoch, nimmt dann ihre Wangen zwischen seine Hände ... versucht er, ihr die Farbe des Fleisches wiederzugeben? Er blickt auf sie hinunter, versucht, ihr in die Augen zu schauen, und ist überrascht, plötzlich Tränen aufsteigen zu sehen, die durch die Wimperhärchen quellen, feine Kräusel von Tusche austreten lassen ... durchscheinende Steine, die in ihren Fassungen zittern ...
    Wellen stoßen und zerren an den Steinen des Strandes. Der Hafen hat einen Ausschlag von Schaumkronen bekommen, die
    so weiß leuchten, daß sie ihr Licht unmöglich aus diesem trüben Himmel haben können. Hier ist sie wieder, diese völlig identisch aussehende Andere Welt - ist es das, was ihm in Zukunft den Kopf zerbrechen soll? Verdammt, diese Bäume - jeder einzelne ihrer langen Wedel steht wie mit Nadeln gestochen, in verwirrender Feinarbeit, gegen den Himmel, jeder einzelne so absolut perfekt plaziert... Sie hat sich ihm mit Schenkeln und Hüften genähert, berührt ihn durch ihren Mantel hindurch - vielleicht, trotz allem, um ihm die Rückkehr zu erleichtern -, ihr Atem ein weißer Schal, die Tränenspuren winterhell, Eis. Sie fühlt sich warm an. Aber das genügt nicht. Hat niemals genügt - neinnein, er versteht sehr gut, daß sie seit langem gehen will. Umschlungen gegen den Wind, auf den die weißen Schaumkronen schließen lassen, oder gegen die Schräge des Pflasters, halten sie einander fest. Er küßt ihre Augen, fühlt, wie sein Schwanz wieder zu schwellen beginnt vor guter alter, schlimmer alter, jedenfalls alter Lust.
    Draußen auf See beginnt eine einzelne Klarinette eine spaßige Melodie, in die nach ein paar Takten auch Gitarren und Mandolinen einfallen. Vögel drängeln sich mit strahlenden Augen am Strand. Katjes Herz wird leichter, ein wenig, von der Musik. Slothrop hat den europäischen Reflex auf Klarinetten noch nicht entwickelt, er denkt noch an Benny Goodman, nicht an Clowns und Zirkus - aber Moment mal ... kommen da nicht Kazoos? Yeah, 'ne ganze Menge Kazoos! Eine Kazoo-Band! Spät an diesem Abend, wieder in ihrem Zimmer, trägt Katje eine rote Robe aus schwerer Seide. Zwei hohe Kerzen brennen in unbestimmbarer Entfernung hinter ihr. Er spürt die Veränderung. Nachdem sie sich geliebt haben, liegt sie auf einen Ellbogen gestützt und beobachtet ihn, tief atmend. Die dunklen Brustwarzen reiten auf ihrem Atmen wie Bojen auf einer weißen Dünung. Doch über ihren Augen hat sich eine Patina gebildet. Sogar ihren gewohnten Rückzug kann er nicht mehr sehen, dieses letzte Mal, die graziöse Verschleierung in der entfernten Ecke eines inneren Raumes ... "Katje."
    "Schhh!" Träumende Fingernägel spreizen sich gegen den Morgen, über die Cote d'Azur und Italien. Slothrop möchte singen, entschließt sich auch dazu, aber dann fällt ihm kein Lied ein, das wirken könnte. Er streckt einen Arm aus und erstickt,

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