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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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irgendeiner Platte kratzt ... wärmesuchendes
    Aneinanderkuscheln bei zugezogenen Verdunkelungsvorhängen, im Glutschein der letzten Zigarette, eines englischen Leuchtkäfers, mit dem sie launisch zurückgeneigte kursive Schriftzüge in das Dunkel zittert, Worte, die er nicht entziffern kann...
    "Und dann?" Slothrop schweigt. "Was war mit deinen beiden Drahtamseln ... nachdem sie dich gesehen hatten... " Er merkt, daß Slothrop, statt seine Geschichte weiterzuerzählen, auf einmal unkontrolliert zittert. Daß er schon eine ganze Weile gezittert haben muß. Es ist kühl im Zimmer, aber doch nicht so kühl... "Slothrop -" "Ich weiß nicht. Großer Gott." Aber interessant ist es. Ein unheimlich starkes Gefühl. Er kann nicht aufhören damit. Er stellt den Kragen seiner Ike-Jacke hoch, steckt die Hände in die Ärmel und bleibt eine Weile so sitzen.
    Dann, nach einer Pause, die Zigarette wieder in Bewegung: "Man hört sie nicht kommen."
    Tantivy weiß, was "sie" bedeutet. Sein Blick weicht aus. Für einen Augenblick herrscht Stille.
    "Natürlich nicht, sie fliegen schneller als der Schall."
    "Ja, aber- das ist es nicht", die Worte brechen stoßweise hervor, "die anderen, diese
    V1, die kann man hören, nicht? Da hat man vielleicht eine Chance und kann
    ausweichen. Aber diese neuen Dinger explodieren erst, uund dann hörst du sie
    runterkommen. Außer, wenn du tot bist, dann hörst du sie nie."
    "Das ist bei der Infanterie doch das gleiche. Weißt du doch. Du hörst niemals
    diejenige, die dich erwischt."
    "Aber-"
    "Denk dir das Ganze einfach als eine sehr große Gewehrkugel, Slothrop. Eine mit Flossen."
    "Jesus", seine Zähne klappern, "du bist schon ein Trost."
    Besorgt beugt sich Tantivy durch den Bierdunst und das braune Dämmerlicht zu Slothrop, dessen Schlottern ihn jetzt mehr beunruhigt als jeder seiner eigenen Plagegeister. Ihm fallen nur Dienstwege ein, dieses Gespenst zu bannen: "Warum sehen wir nicht zu, daß du direkt an die Einschlagstellen rankommst?" "Wozu soll das gut sein, Tantivy? Dann sind sie doch völlig zerstört. Oder?" "Ich weiß nicht. Ich bezweifle sogar, ob es die Deutschen wissen. Aber auf jeden Fall wäre es die beste Gelegenheit, den Burschen von der Technischen Abwehr zuvorzukommen. Meinst du nicht?"
    So war Slothrop an die Untersuchung der V-Bomben-"Vorfälle" geraten. Eine Nachlese. Jeden Morgenanfangsschickte jemand vom Amt für Zivilschutz eine Liste mit den Einschlägen des vergangenen Tages zu ACHTUNG, wo Slothrop sie als letzter auf den Tisch bekam, den Empfang auf einem vollgeschmierten Vordruck bestätigte, sich in der Fahrbereitschaft den immer gleichen alten Humber schnappte und zu seiner Runde aufbrach - ein heiliger Georg mit eingebauter Verspätung, auf der Suche nach dem, was sein Drache fallen gelassen hatte, Metallfragmente made in Germany, von denen nie auch nur die geringste Spur zu finden war, worüber er in seinem Tagesbericht inhaltslose Resümees verfaßte. Reine Beschäftigungstherapie. Als sich der Informationsfluß allmählich zu beschleunigen begann, erschien er manchmal sogar früh genug, um noch bei den Rettungsarbeiten helfen zu könnenfolgte rastlos hechelnden RAF-Suchhunden in den Gipsgeruch der Staubwolken, das zischende Gas, zwischen schräge, gesplitterte Tragbalken, durchhängende Decken, hingestreckte Karyatiden mit abgeschlagenen Nasen, rostrot an Nägeln und Eisenarmierungen, die pudrigen Wischer der Hand des Nichts auf Tapeten, die noch von Pfauen raunten, welche auf weiten Rasenflächen zwischen längst vergangenen georgianischen Häusern und sicheren Steineichenwäldern ihre Räder schlugen ... folgte inmitten von "Ruhe!"-Geschrei bis zu der Stelle, wo eine aufragende Hand oder die Helligkeit von Haut auf sie warteten, ein Überlebender oder ein Opfer. Wenn er nichts tun konnte, hielt er sich im Hintergrund, betete anfangs noch ganz konventionell zu Gott, erstmals wieder seit dem ersten "Blitz", daß das Leben Sieger bleiben möge. Aber zu viele starben, und bald, als er keinen Sinn mehr darin sah, hörte er mit dem Beten auf. Gestern war zufällig ein guter Tag. Sie fanden ein Kind, und es lebte, ein kleines Mädchen, halb erstickt unter einem Morrison-Schutzdach. Während er auf die Tragbahre wartete, hielt Slothrop die kleine Hand, violett vor lauter Kälte. Auf der Straße bellten Hunde. Als sie die Augen öffnete und ihn erblickte, waren ihre ersten Worte: "Hamse Kaugummi?" Sie war zwei Tage lang gummilos gefangen gewesen -und alles, was er für

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