Die Enden der Parabel
gespreizt daliegt, die Arme zum Himmel erhoben, die Hände um Sträuße und Cocktailgläser gekrümmt, die imaginär bleiben werden, hört Slothrop ein Mädchen singen. Sie begleitet sich selbst auf einer Balalaika. Eine von diesen traurigen, kleinen, pariserisch klingenden Melodien im Dreivierteltakt:
Die Liebe läßt dich nie, Und flieht sie einmal doch, Hält dich Erinnerung Gebannt in ihrem Joch. Du bist von mir gegangen, Die Rose nur blieb hier, Gepreßt in meinem Stundenbuch -Die Rose blieb bei mir... Nun ist ein Jahr verstrichen, Es kam ein neuer Traum, Und doch bringt deine Rose Zurück den Lindenbaum... Denn Liebe läßt dich nie, Nicht, wenn sie ehrlich war -Sie kehrt zurück, bei Tag, bei Nacht, Frisch wie im alten Jahr -Zärtlich und grün, treu bis ans Grab, Wie unser Lindenbaum,
Von dem für deine Rose ich einst ein Blatt dir gab ...
Es stellt sich heraus, daß sie Geli Tripping heißt, und die Balalaika gehört einem sowjetischen Geheimdienst-Offizier namens Tschitscherin. In gewisser Weise übrigens auch Geli - zumindest hin und wieder. Sieht ganz so aus, als hielte sich dieser Tschitscherin einen Harem: ein Mädchen in jeder Raketenstadt der Zone. Aha, noch so 'n Raketennarr. Slothrop kommt sich vor wie ein Tourist. Geli erzählt von ihrem Freund. Sie sitzen in ihrem dachlosen Salon und trinken einen bleichen Wein der Gegend, der sich "Nordhäuser Schattensaft" nennt. Über ihren Köpfen weben schwarze Vögel mit gelben Schnäbeln durch den Himmel, schrauben sich im Sonnenlicht von ihren Nestern auf den Bergschlössern herunter in die Ruinen der Stadt. Weit entfernt, am Marktplatz vielleicht, laufen die Motoren eines ganzen Lastwagenkonvois warm. Der Geruch der Auspuffgase kriecht über das Mauerlabyrinth, in dem Moose wuchern, Wasser gurgelt, Kakerlaken nach Freßbarem fahnden, die Mauern das Motorengeräusch brechen, so daß es von allen Seiten zugleich zu kommen scheint.
Sie ist mager, ein wenig linkisch, sehr jung. Nirgendwo in ihren Augen ist die geringste Spur von Korrosion - sie könnte ihren ganzen Krieg unter Dach und sicher zugebracht haben, friedlich mit kleinen Waldtieren spielend an irgendeinem Ende der Welt. Ihr Lied, sie gibt es seufzend zu, war zum größten Teil Wunschdenken. "Wenn er gegangen ist, dann ist er eben weg. Als du hereinkamst, hab ich dich fast für Tschitscherin gehalten."
"Nönö, ich bin nur 'n schwerarbeitender Zeitungsschnüffler, sonst nichts. Keine Raketen, keine Harems."
"Es ist ein Arrangement", erklärt sie ihm. "Hier draußen ist alles so unorganisiert. Man muß sich einfach arrangieren. Du wirst schon sehen." Natürlich wird er -Tausende von Malen wird er sehen, wie man sich arrangiert für Wärme, Liebe, Essen, fürs Vorwärtskommen über Straßen, Schienen und Kanäle. Selbst die G 5, die ihre Phantasie auslebt, im Augenblick die einzige Regierung Deutschlands zu sein, ist nur ein Arrangement mit der Tatsache des Sieges, sonst nichts. Weder mehr noch weniger real als all die anderen Übereinkünfte, die so privat und unauffällig sind, so verloren an die Geschichte. Slothrop, obwohl er's noch nicht weiß, ist ein ebenso legitim verfaßter Staat wie jeder andere in der Zone dieser Tage. Keine Paranoia. Es ist einfach so. Vorübergehende Bündnisse, geknüpft wie gelöst. Er und Geli arrangieren sich, durch Mauerreste von den besetzten Straßen abgeschirmt, in einem alten Bett mit vier hohen Pfosten vor einem dunklen Pfeilerspiegel. Aus dem Dach, das nicht mehr da ist, blickt er auf die lange, baumbedeckte Flanke eines Berges. Wein in ihrem Atem, Daunennester in ihren Achselhöhlen, Schenkel federnd wie frische Triebe im Wind. Er ist kaum in sie eingedrungen, als sie schon kommt, auf ihrem Gesicht, deutlich und rührend, eine Phantasie über Tschitscherin. Das irritiert Slothrop, hindert ihn aber nicht daran, selbst auch zu kommen. Die Idiotie folgt mit dem Abschwellen, amüsante Fragen wie: welches Zauberwort hat alle anderen von Geli ferngehalten außer mir? Oder liegt's an diesem Etwas, mit dem ich sie an Tschitscherin erinnere, und was mag das sein? Und übrigens, wo steckt er eigentlich im Augenblick, dieser Tschitscherin? Er döst ein, wird geweckt von ihren Lippen, Fingern, tauigen Beinen, die sich an seinen reiben. Die Sonne springt über den Himmelsausschnitt, wird von einer Brust verfinstert, aus kindlichen Augen reflektiert ... dann Wolken, Regen, gegen den sie eine grüne Persenning mit Quasten, selbst angenäht, wie einen Baldachin über
Weitere Kostenlose Bücher