Die Enden der Parabel
nachstellt, könnte das doch bedeuten, daß er was wert ist."
"Wenn wirklich - treffen wir ihn sicher wieder."
Enzian schnappt sich sein Marschgepäck, schluckt zwei Pervitin für unterwegs, erinnert Andreas an ein paar Dinge, die am nächsten Tag zu erledigen sind, und klettert über die langen Salz-und Steinrampen an die Oberfläche. Im Freien, atmet er die immergrüne Luft des Harzes. In den alten Dörfern wäre es jetzt Zeit fürs abendliche Melken. Der erste Stern ist schon draußen, Okanumaihi, der kleine Trinker der süßen Milch...
Doch es muß ein anderer Stern sein hier, ein Stern der Nordhalbkugel. Er spendet keinen Trost. Was ist geschehen mit uns? Wenn wir wirklich niemals eine eigene Wahl getroffen haben, wenn es uns Zonen-Hereros tatsächlich vorbestimmt ist, in der Brust des Engels zu leben, der uns in Südwest vernichten wollte - sind wir dann Übergangene ... oder war es Erwählung, zu etwas Schrecklicherem noch als damals?
Enzian muß vor dem nächsten Speeren der Sonne in Hamburg sein. Die Sicherheitsvorkehrangen auf den Zügen sind zwar lästig, doch die Wachtposten kennen ihn. Die langen Güterzüge rollen Tag und Nacht aus den Mittelwerken, beladen mit A-4-Teilen, unterwegs nach Westen zu den Amerikanern, nach Norden zu den Engländern... und bald, wenn die neue Landkarte der Okkupation in Kraft tritt, auch nach Osten, zu den Russen ...
Nordhausen wird unter russischer Verwaltung stehen, und es dürfte ziemlich turbulent hier werden für uns ... wird er dann seine Chance auf Tschitscherin bekommen? Enzian hat den Mann nie gesehen, aber ihnen ist bestimmt, daß sie zusammentreffen. Enzian ist sein Halbbruder. Sie sind vom gleichen Fleisch. Sein Ischiasnerv pocht. Zuviel Sitzen. Er geht humpelnd, allein, den Kopf noch immer gesenkt, wie er es von den niedrigen Durchgängen in der Erdschweinhöhle gewohnt ist - wer weiß, was hier draußen auf einen Kopf wartet, der zu hoch getragen wird? Die Straße hinunter zur Eisenbahnüberführung, groß und grau im wachsenden Sternenlicht, ist Enzian auf dem Weg nach Norden...
[3.4] Brockengespenst
Kurz vor der Morgendämmerung. Keine fünfzig Meter tiefer fließt die bleiche Wolkendecke, nach Westen ausgestreckt, so weit das Auge reicht. Hier stehen Slothrop und Geli Tripping, der Hexenlehrling, auf dem Gipfel des Brocken, dem Nervenknoten des Deutschen Bösen, fünfunddreißig Kilometer nordnordwestlich der Mittelwerke, und warten auf den Sonnenaufgang. Obwohl die Walpurgisnacht längst vorbei, das muntere Pärchen fast einen Monat zu spät dran ist, sind stumme Zeugen des letzten Hexensabbats noch reichlich vorhanden: geleerte Kriegsbierflaschen, Spitzenhöschen, verschossene Patronenhülsen, Hakenkreuzbanner aus zerfetztem rotem Satin, Tätowiernadeln, blaue Tintenflecke - "Wofür, zum Henker, habt ihr das gebraucht?" forscht Slothrop.
"Für den Teufelskuß natürlich", schmiegt sich Geli a la Du-ahnungsloses-Dummerchen in seine Achselhöhle, und Slothrop kommt sich alt und dumm gestorben vor für diese Bildungslücke. Aber schließlich weiß er ohnehin so gut wie nichts von Hexen, obwohl sich unter seinen Vorfahren sogar eine echte Salem -Hexe befindet, eine der letzten, eine Strecke von Jahrhunderten zurück, die mitmachen durfte beim Sus.-per-coll.-Massenbaumeln, vom Stammbaum derer von Slothrop. Sie hieß Amy Sprue, eine Familien-Renegatin, die mit dreiundzwanzig ihr Herz für den Antinomismus entdeckte und - mit zweihundert Jahren Vorsprung vor Crazy Sue Denham - als Irre durch die Berkshires zog, Säuglinge entführte, auf Kühen durch die Dämmerung ritt und auf dem Gipfel von Snodd's Mountain Hühneropfer feierte, 'ne Menge böses Blut gab's wegen dieser Hühner, wie man sich denken kann. Die Kühe und die Babies dagegen kamen immer irgendwie heil zurück, denn Amy Sprue war, anders als die Gegenspielerin unserer hüpfenden kleinen Dorothy, keine böse Hexe...
Sie war unterwegs nach Rhode Island, hoffte dort auf Asyl, Und sie dachte sich, mach mal Pause in Salem, Doch die mochten ihren Typ nicht, und es blieb ihr nichts mehr
übrig
Als zu verzichten auf die Narragansett Bay ...
Man nahm sie wegen Hexerei fest, und sie kriegte den Strick. Noch so eine Blüte aus Slothrops verrückter Verwandtschaft. Wenn man überhaupt von ihr sprach, dann mit einem Achselzucken, zu weit lag das zurück, um noch Familienschande zu sein -eher eine Kuriosität. Slothrop wuchs auf, ohneäso recht zu wissen, was er von ihr halten sollte. Aber in den
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