Die Enden der Parabel
Dreißigern hatten Hexen sowieso keine faire Chance. Sie wurden als alte Vetteln dargestellt, die einem "Schatzi" nachriefen, nicht eben die zuträglichste Gesellschaft. Die Filme haben versagt, ihn auf diese teutonische Variante hier vorzubereiten. So eine Kraut-Hexe hat zum Beispiel sechs Zehen an jedem Fuß und eine ganz haarlose Fotze. So sehen jedenfalls die Hexen aus, die man auf den Wandmalereien im Treppenschacht des ehemaligen Nazi-Sendeturms hier oben auf dem Brocken bewundern kann, und Regierungswände sind wahrhaftig nicht der Ort, an dem man zügellose Phantasien erwarten muß, oder? Geli glaubt allerdings, daß die haarlose Fotze den Bildern von von Bayros nachempfunden ist. "Nö, du bist nur zu faul, dir deine zu rasieren", kräht Slothrop, "ha! 'ne schöne Hexe!" "Ich werd dir mal was zeigen", sagt sie, was auch der Grund ist, aus dem sie zu dieser unchristlichen Stunde bereits wach und hier oben sind, händehaltend und ganz still nun, da die Sonne über die Horizontlinie zu rollen beginnt. "Jetzt schau", flüstert Geli: "dort draußen."
Als die ersten Strahlen, fast waagrecht, ihre Rücken treffen, wird es auf der perlmuttfarbenen Wolkendecke sichtbar: zwei gigantische Schatten, viele Kilometer weit über das Land geworfen, über Clausthal-Zellerfeld hinaus, über Seesen bis Bad Gandersheim und weiter, wo schon die Leine fließen müßte, und weiter noch, auf die Weser zu .. ."Du liebe Güte", Slothrop, etwas nervös, "das Gespenst." Oben bei Greylock, in den Berkshires, kennt man's auch. Hier im Harz trägt es den Namen Brockengespenst.
Götterschatten. Slothrop hebt einen Arm. Seine Finger sind Städte, sein Bizeps ist ein ganzer Landstrich - natürlich hebt er einen Arm. Wird das nicht von ihm erwartet? Der Armschatten zieht eine Regenbogenspur hinter sich her, als er ihn gen Süden schwenkt, um nach Göttingen zu greifen. Es sind auch keine gewöhnlichen Schatten - sie werden plastisch, in 3-D über das deutsche Morgengrauen geworfen und ja, Titanen mußten einfach hier in diesen Bergen leben, oder unter ihnen, so drastisch aus den Maßstäben gehoben, wie sie waren... Nie von einem Fluß getragen. Nie auf einen Horizont blickend, um zu denken, er wäre grenzenlos. Ohne je Bäume zu besteigen, ohne lange Reisen zu unternehmen ... nur ihre dunklen Bilder sind geblieben, farbengesäumte Schalen, über die Nebel hingestreckt, in denen die Menschen herumtappen...
Geli kickt ein Bein zur Seite, rechtwinklig, wie eine Tänzerin, und neigt den Kopf ins Gleichgewicht. Slothrop hebt einen Mittelfinger gegen Westen, fünf Wolkenkilometer pro Sekunde. Geli
greift nach Slothrops Schwanz. Slothrop beugt sich vor, um in Gelis Brust zu beißen. Sie sind Riesen, betanzen das Parkett des ganzen sichtbaren Himmels. Er faßt ihr unter das Kleid. Sie schlingt ein Bein um eins von seinen. Die Spektren verfärben sich an allen ihren Rändern, wogend, grenzenlos, von Rot zu Indigo. Dort draußen, unterhalb der Wolkendecke, ist es so still, und so verwunschen, wie Atlantis. Doch das Brockengespenstphänomen gehört der schlanken Grenzfläche des Sonnenaufgangs, und bald sind die Schatten wieder zu ihren Besitzern zurückgeschrumpft.
"Sag mal, hat dieser Tschitscherin jemals -" "Tschitscherin hat viel zuviel zu tun für so was."
"Oh, und ich bin 'ne Art Drohne oder wie?" "Du bist anders."
"Je-nun ... er sollte es aber sehen."
Sie blickt ihn neugierig an, aber fragt nicht nach dem Grund -die Zähne bleiben auf der Unterlippe stehen, und das Warum (varoom - ein Plasticman-Klang) vibriert gefangen in der Mundhöhle. Auch gut. Slothrop weiß gar nicht, warum. Er ist für keinen eine große Hilfe, der sich aufs Ausfragen kapriziert. Letzte Nacht stieß er mit Geli zufällig auf einen Schwarzkommando-Posten vor einer alten Mineneinfahrt. Die Hereros bombardierten ihn eine Stunde lang mit Fragen. Och, nur 'n kleiner Spaziergang, versteht ihr, mal sehen, ob einem was Kurioses über den Weg läuft, was wir so "human interest" nennen, ist aber auch faszinierend, uns interessiert natürlich, was ihr treibt ... Geli stand abseits im Dunkeln und kicherte. Sie schienen sie zu kennen. Ihr haben sie keine einzige Frage gestellt.
Als er später darauf zurückkam, war sie sich auch nicht ganz klar darüber, was zwischen Tschitscherin und den Afrikanern eigentlich läuft. Aber was immer es sein mag, es wird mit großer Leidenschaft ausgetragen.
"Haß steckt dahinter, bestimmt", sagte sie. "So ein Blödsinn! Der Krieg ist vorbei.
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