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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Schallgeschwindigkeit erreichten. Ein Bänderfallschirm wurde entwickelt, der es erlaubte, die Versuchsraketen unbeschädigt zu Boden zu bringen. Die Teams, die an der Steuermaschine und dem Leitsystem arbeiteten, standen zwar noch am Anfang ihres Weges, waren aber bereits zu Strahlrudern aus Graphit übergegangen, hatten die Pendelungen bis auf etwa fünf Grad reduziert und sahen die Stabilität der Rakete mit meßbar glücklicheren Augen.
    Irgendwann im Winter kam der Punkt, an dem sich Pökler einem Treffen mit Weißmann gewachsen fühlte. Er fand den SS-Mann verschanzt hinter Augengläsern, die wie wagnersche Schilde wirkten, gewappnet für nicht mehr tolerierbare Spitzen -Wutanfälle, Anschuldigungen, einen Ausbruch von Bürogewalt. Es war wie eine Begegnung mit einem Fremden. Seit den frühen Tagen in Kummersdorf, in der alten Versuchsstelle West, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. In dieser Viertelstunde in Peenemünde lächelte Pökler mehr, als er es in dem ganzen vergangenen Jahr getan hatte: Er sprach von seiner Bewunderung für Pöhlmanns Arbeit bei der Entwicklung eines neuen Kühlsystems für den Ofen. "Und wie steht's mit den Hitzepunkten?" fragte Weißmann. Es war eine vernünftige Frage, aber auch eine Vertraulichkeit.
    Pökler begriff, daß es dem Mann einen feuchten Staub um Überhitzungsprobleme ging. Dies war ein Spiel, wie ihn Mondaugen gewarnt hatte - ritualisiert wie Jiu-Jitsu. "Wir haben Wärmeflußdichten", Pökler fühlte sich wie sonst nur, wenn er sang, "in der Größenordnung von drei Millionen kcal/m2h .C. Regenerativkühlung ist momentan die beste Zwischenlösung, aber Pöhlmann hat einen neuen Ansatz gefunden -" er demonstrierte mit Kreide und Tafel, bemüht, professionell zu wirken -"er vermutet, daß es uns gelingen könnte, den Wärmeübergang ganz entscheidend zu verringern, wenn wir einen Spiritusfilm zwischen die Flamme und die Innenwand des Ofens brächten."
    "Sie wollen es einspritzen." "Genau."
    "Wieviel Brennstoff müßte dafür abgezweigt werden? Welchen Einfluß hat es auf den Wirkungsgrad des Triebwerks?"
    Pökler hatte die Zahlen im Kopf. "Im Augenblick ist die ganze Einspritzung ohnehin noch ein Klempneralptraum. Aber wenn der Zeitplan bleibt, wie er ist -" "Was ist mit dem zweiphasigen Verbrennungsprozeß?"
    "Gibt uns mehr Volumen, eine bessere Durchmischung, aber wir haben auch einen nicht-isotropen Druckabfall, der den Wirkungsgrad vermindert... Wir verfolgen alle möglichen Ansätze. Wenn wir einen größeren Etat zur Verfügung hätten -" "Ah. Nicht mein Ressort. Wir könnten selber ein etwas großzügigeres Budget vertragen." Und sie lachten beide, Gentleman-Wissenschaftler unter einer knickrigen Bürokratie, in ihren Sorgen vereint.
    Pökler wußte, daß er eine Verhandlung um sein Kind und Leni geführt hatte: daß diese Fragen und Antworten zwar nicht direkt ein Code für etwas Verschlüsseltes gewesen waren, aber doch zur Beurteilung von Pökler-als-Person gedient hatten. Es wurde von ihm erwartet, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten -nicht einfach eine Rolle zu spielen, sondern sie zu leben. Jede Abschweifung in Eifersucht, Metaphysik, Ungenauigkeit würde sofort aufgegriffen werden: man würde ihn entweder auf den richtigen Kurs zurückbringen oder ihm gestatten, zu fallen. Im Verlauf des Winters und des Frühlings wurden die Sitzungen mit Weißmann zur Routine. Pökler wuchs in seine neue Maske hinein - Vorzeitig Gealtertes Heranwachsendes Genie -und spürte oft genug, daß sie in der Tat die Herrschaft über ihn gewinnen konnte, ihn länger über Fachbüchern und Schießprotokollen brüten ließ, ihm Worte einflüsterte, die er selbst nicht hätte finden können: eine vornehme, gelehrtenhafte, raketenbesessene Sprache, die ihn überraschte. Ende August kam der zweite Besuch. Es hätte "Ilses Wiederkehr" sein sollen, doch Pökler war sich nicht sicher. Wie schon beim erstenmal tauchte sie ohne Begleitung auf, ohne Vorankündigung - lief auf ihn zu, küßte ihn, nannte ihn Papi. Aber... . Aber ihr Haar, zum einen, war entschieden dunkelbraun und ganz anders geschnitten. Ihre Augen waren schmäler, standen anders, ihr Gesicht war weniger blaß. Sie schien einen ganzen Kopf gewachsen zu sein. Aber in diesem Alter schießen sie ja über Nacht in die Höhe, nicht wahr? Wenn es überhaupt "dieses Alter" war... Selbst in dem Augenblick, da Pökler sie umarmte, verstummte das verstockte Flüstern nicht. Ist sie dieselbe? Haben sie dir ein anderes

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