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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Funksprüchen, die an einem Tag chiffriert, am nächsten in Klartext über den Äther gehen, eine frische und formlose Lage, die zwischen dem Schweigen des Henkers und der Großen Zeit oszilliert. Gerade jetzt gibt es gute internationale Gründe für eine Anubis-Affäre, aber genauso gute dagegen, die Noten funken hin und her, zu unvereinbar für Vereinbarungen, und stündlich werden die Befehle umgestoßen. Mit wütendem Stampfen und Rollen marschiert die Anubis nach Norden. Blitze flackern ringsum am Horizont, der Donner erinnert die Militärs an Bord an Trommelfeuer, die Schlachten vorbereiteten, von welchen sie nicht mehr so sicher wissen, ob sie sie überlebt haben oder gerade träumen, ob sie noch erwachen können, um zu sterben ... Die Wetterdecks glitzern naß und verlassen. Partyabfälle verstopfen die Speigatten. Ranziger Fettrauch schlingt sich aus dem Bullauge der Kombüse in den Regen. Der Salon ist für die Bakkarat-Spieler vorbereitet, im Kesselraum laufen Pornofilme. Die zweite Hundewache wird gleich dran sein. Wie der Docht einer frisch entzündeten Kerosinlampe schickt sich das weiße Schiff in seinen abendlichen Alltag.
    Partygäste taumeln bug- und heckwärts, die Abendroben dekoriert mit Sonnenbannern aus Kotze. Damen liegen erregt im Regen, die Brustwarzen hart und atmend unter durchnäßter Seide. Stewards rutschen mit Tabletts voll Dramamin und doppeltkohlensaurem Natron über die Decks. Reihernde Aristokraten sacken in die Rettungsleinen. Slothrop tritt auf, eine steile Treppe zum Hauptdeck herunterrasselnd, nachdem ihm beide Halteseile außer Griffweite geschlingert sind. Er fühlt sich nicht allzu prächtig. Er hat Bianca verloren. Das ganze Schiff hat er auf den Kopf gestellt, vom Bugspriet bis zum Wellentunnel und zurück, aber nichts gefunden, nicht sie und nicht den Grund, aus dem er sie an diesem Morgen verlassen hat.
    Das macht was aus, aber was? Jetzt, da ihm Margherita, über die saitenlose Leier und bittre Schlucht einer Schiffstoilette, von ihren letzten Tagen mit Blicero vorgeweint hat, braucht er nicht mehr daran zu zweifeln, daß es das S-Gerät ist, das ihn verfolgt, das S-Gerät und die bleiche Plastik-Allgegenwart des Laszlo Jamf. Daß er, wenn gleichzeitig Sucher und Gesuchter, auch Geköderter und Köder ist. Das Imipolex-Rätsel ist ihm gepflanzt worden, damals im Casino Hermann Goering, von irgend jemandem, der hoffte, daß es sich in der Zone zu einer ganzen Imipolectique mit eigener Dynamik auswachsen würde - aber sie haben von vornherein gewußt, daß Slothrop darauf anspringen würde. Sieht ganz so aus, als ob es Sub-Slothropsche Bedürfnisse gäbe, die sie kennen und er nicht. Dem ins Gesicht sehen zu müssen ist demütigend genug, aber es gibt noch eine beunruhigendere Frage: Was ist es, das ich so nötig brauche?
    Selbst noch vor einem Monat, wäre er einen oder zwei Tage zur Ruhe gekommen, hätte er vielleicht den Weg zurück zu jenem Nachmittag im September finden können, zu dem steifen Schwanz in seiner Hose, der prompt wie eine Wünschelrute aufgesprungen war, auf das zu deuten, was am Himmel stand für alle. Rutengehen nach Raketen ist eine Gabe, und er besaß sie, litt darunter, versuchte seinen Körper bis zur letzten Pore, bis zum letzten Follikel mit klingelnder Geilheit vollzupumpen, um
    einzudringen, erfüllt zu werden ... nachzujagen und zu sehen ... aufzuheulen und sich zu öffnen, Arme, Beine, Mund, Arschloch, Augen, Nasenlöcher, ohne die Hoffnung auf Gnade vor ihrer Absicht, die bleicher am Himmel lauerte als ein blasser, kommerzieller Christus...
    Jetzt jedoch hat sich ein Raum, ein Raum, gegen den er nichts mehr kann, hinter Slothrop geöffnet, hat die Brücken, die zurückgeführt haben mochten, unterbrochen für immer. Es macht ihm immer weniger aus, die zu verraten, die ihm trauen. Er empfindet Verpflichtungen immer schwächer. Er erlebt eine Gefühlsverarmung, auf allen Gebieten, eine Betäubung, die ihn erschrecken sollte, aber er schafft's nicht... Schafft's nicht...
    Über den Schiffsfunk knacken russische Sendungen herein. Atmosphärische Störungen zischen wie Regengüsse durch den Raum. Am Ufer werden Lichter sichtbar. Procalowski legt einen Hauptschalter um und löscht die gesamte Beleuchtung der Anubis. Flüchtige Elmsfeuer züngeln an Kanten und Spitzen auf, flackern weiß und verräterisch um Antennen und Stagen.
    Versteckt vom Sturm wird das weiße Schiff die große Ruine von Stettin passieren, ohne einen Laut. Der Regen wird an

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