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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Riesige Kothaufen lagen auf der Straße, frisch und schneckenförmig geringelt wie Tauwerk, dunkel und knotig. Wer oder was konnte sie hinterlassen haben?
    Im gleichen Augenblick wurde ihr und Thanatz klar, daß sie seit Stunden durch die Ruine einer großen Stadt gewandert sein mußten, keiner alten Ruine, sondern einer jungen, die erst zu ihrer beider Lebzeiten verfallen war. Vor ihnen wand sich der Weg tiefer ins Dickicht hinein. Doch irgend etwas stand jetzt zwischen ihnen und dem, was hinter der Kurve lag, unsichtbar und ungreifbar ... irgendein Mahner, der sagte: "Keinen Schritt weiter. Es ist genug. Nicht einen mehr! Kehrt um jetzt." Es war unmöglich, noch weiter vorzudringen. Beide bebten vor Angst. Sie wandten sich um, spürten es in ihrem Rücken und entfernten sich, so schnell sie konnten. Zur Schußstelle zurückgekehrt, fanden sie Blicero im Endstadium seines Wahnsinns. Die Baumstümpfe auf der kalten kleinen Lichtung waren entrindet, bluteten Gummitropfen von den Explosionen der Rakete.
    "Er hätte uns wegschicken können. Blicero war eine lokale Gottheit. Er hätte nicht einmal ein Stück Papier gebraucht. Aber er wollte, daß wir alle blieben. Er gab uns das Beste, was wir uns wünschen konnten, Betten, Essen, Alkohol, Drogen. Irgend etwas wurde vorbereitet, etwas, das mit dem jungen Gottfried zu tun hatte, das war so unverkennbar wie der Harzgeruch, den man an diesen blauen, dunstigen Morgen als erstes roch. Aber Blicero erklärte uns nichts.
    Wir zogen tiefer in die Heide hinein. Wir sahen Ölfelder und verbrannte Erde. Jabos flogen in diamantenen Formationen über uns hinweg, jagten uns. Blicero hatte sich weiterverwandelt. In ein anderes Tier ... einen Werwolf ... doch ohne daß ein Rest von Menschenähnlichkeit in seinen Augen zurückgeblieben wäre: sie war geschwunden, Tag um Tag, und ersetzt worden von grauen Runzeln, roten Äderchen in Mustern, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Es waren Inseln: geklumpte Inseln im Meer. Manchmal sogar wie topographische Linien, um einen Punkt verdichtet. , stell dir einen Schrei vor, so leise, daß er fast geflüstert ist, Plötzlich begriff ich etwas: daß er die Welt jetzt in mythischen Regionen sah, die ihre eigenen Karten hatten, wirkliche Berge, Flüsse, Farben. Es war nicht mehr Deutschland, durch das er sich bewegte. Es war sein eigener Raum. Aber er nahm uns mit sich! Meine Fotze schwoll von Blut angesichts der Gefahr, des Risikos unserer Auslöschung, der herrlichen Ungewißheit, wann es auf uns herabstoßen würde, da Raum und Zeit doch Blicero gehörten ... Er zog sich nicht über die Straßen zurück, er überquerte keine Brücken oder Ebenen. Wir kreuzten durch Niedersachsen, von Insel zu Insel. Jede Schußstelle war eine neue Insel in einem weißen Meer. Jede Insel hatte ihren Gipfel im Zentrum ... war es der Standort der Rakete selbst? Der Augenblick des Abhebens? Eine deutsche Odyssee. Welche würde die letzte sein, die Heimatinsel?
    Ich vergesse immer wieder, Thanatz zu fragen, was schließlich mit Gottfried geschah. Thanatz durfte bei der Batterie bleiben. Mich fuhr man fort, in einem Hispano-Suiza, Blicero selbst am Steuer, durch graues Wetter zu einer petrochemischen Fabrik, die uns seit Tagen am Horizont nachgeschwenkt war, schwarze und geborstene Türme, dicht zusammengedrängt in der Entfernung, eine ewige Flamme an der Spitze eines Schornsteins... Es war die Burg: Blicero sah zu ihr hinüber, wollte gerade etwas sagen, da kam ich ihm zuvor: . Sein Mund lächelte rasch, aber abwesend. Die faltigen Wolfsaugen waren selbst über solche zahmen Augenblicke der Telepathie schon hinausgedrungen, hinaus in seinen Tiernorden, zu einem Bestehen auf der harten Schneide des Todes, das ich mir nicht vorstellen kann, erstarrte Zellen, darin das geringstmögliche Flackern, gespeist von nichts als Eis oder selbst weniger. Er nannte mich Katje. Ich hatte keine Angst. Es war ein Wahnsinn, den ich begreifen konnte, oder das Halluzinieren der sehr alten
    Menschen. Der silberne Storch drehte in unseren Wind, die Schwingen gesenkt, den Kopf tief und die Beine nach hinten, den preußischen Hinterhauptsknoten im Nacken: auf seinen glänzenden Oberflächen erschienen schwarze Wirbel von Limousinen und Mannschaftswagen vor der Einfahrt zum Hauptgebäude. Ich sah ein kleines Flugzeug, einen Zweisitzer, am Rande des Parkplatzes. Die Gesichter der Männer darin schienen vertraut. Ich kannte sie vom Film, die Macht und Gravität waren zu spüren -

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