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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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nach Süden segelten, Richtung Byzanz, das ganze Osteuropa ihre offene See: das Ackerland wogt grau und grün wie Wellen ... Teiche und Seen scheinen keine klaren Grenzen mehr zu haben ... der Anblick von Menschen vor diesem Meereshimmel, selbst wenn's Soldaten sind, ist willkommen wie ein Segel nach langen Tagen der Reise...
    Die Nationalitäten sind in Bewegung. Es ist ein großes, grenzenloses Strömen hier draußen, Volksdeutsche von jenseits der Oder, ausgesiedelt von den Polen und unterwegs nach Rostock ins Lager, Polen auf der Flucht vor dem Lublin-Regime, andere auf dem Rückweg in die Heimat, die Augen beider Parteien, wenn sie einander begegnen, eingesunken und verborgen hinter Wangenknochen, Augen, die viel älter sind als das, was sie auf die Straße gezwungen hat, Esten, Letten und Litauer auf dem Treck zurück nach Norden, ihr Winterwollzeug zu dicken Bündeln geschnürt, ihre Schuhe in Fetzen, ihre Lieder zu schwierig zum Mitsingen, Gespräche unmöglich, Sudetendeutsche und Ostpreußen, die zwischen Berlin und den DP-Lagern in Mecklenburg pendeln, Tschechen und Slowaken, Kroaten und Serben, Tosken und Ghegs, Mazedonier, Magyaren, Walachen, Tscherkessen, Spaniolen, Bulgaren, aufgescheucht in die Strömungen des imperialen Kessels, kollidierend, kilometerweit aneinander entlangscherend, sich wieder trennend, taub, gleichgültig gegenüber allen Impulsen mit Ausnahme des tiefsten, der Unbeständigkeit, die zu tief unter ihren wundgelaufenen Füßen liegt, als daß sie Gestalt werden könnte, weiße Handgelenke und Knöchel, die unsäglich abgezehrt aus den gestreiften Lagerkluften stechen, Schritte, leicht wie die von Wasservögeln auf dem Staub des Binnenlands, Karawanen von Zigeunern, denen Achsen oder Deichseln brechen, denen die Pferde wegsterben, Familien, die ihre Wagen an den Straßenrändern für andere zurückgelassen haben, die vielleicht einen Tag oder eine Nacht lang darin Zuflucht suchen, unterwegs auf weißen, glühenden Autobahnen, keuchende Züge über ihren Köpfen, voll von ihresgleichen, Trauben vor den Türen, die sich zur Seite quetschen, wenn Militärkonvois passieren, Weißrussen, bitter vor Schmerz auf dem Weg nach Westen, kasachische Ex-PWs auf dem Marsch nach Osten, Wehrmachtsveteranen aus anderen Teilen des alten Deutschland, so fremd in Preußen wie nur je ein Zigeuner, bepackt mit ihren alten Tornistern, eingewickelt in Armeewolldek-ken, die sie sich gerettet haben, brusthoch auf die Hemden genäht blaßgriine Landarbeiter-Winkel, die zu einer bestimmten Stunde der Dämmerung wie die Kerzenflammen eines religiösen Umgangs vorbeihüpfen und -treiben - sie sollen heute eigentlich auf dem Marsch nach Hannover sein, sollen auf dem Weg Kartoffeln klauben, seit einem Monat jagen sie jetzt diesen nicht existierenden Kartoffelfeldern nach- "Geplündert", ein ehemaliger Hornist kommt mit einem langen Splitter aus einer Schienenschwelle als Krückstock angehinkt, sein Instrument, unglaublich unversehrt und glänzend, über der Schulter, "geplündert von der SS, Bruder, ja, jeder einzelne, verdammte Kartoffelak-ker, und für was? Alkohol. Nicht zum Trinken, nein, Alkohol für die Raketen! Kartoffeln, die wir hätten essen, Alkohol, den wir hätten trinken können. Es ist unglaublich." "Was? Die Raketen?" "Nein! Die SS, wie sie Kartoffeln ausbuddelt!" und er blickt sich nach Lachern um. Aber keiner ist hier, der dem Tusch und Triller seines minder feierlichen Herzens folgen mag. Sie waren Infantristen, sie wissen zwischen den Schritten eine Prise Schlaf zu nehmen -irgendwann am Morgen werden sie neben dem Rand der Straße niederschlagen, die Ausfällung eines Augenblicks in der Reaktionskolonne der Straßen dieser Nacht, während das unsichtbare Sieden neben ihnen weitergeht, der breitgesprengte Strudel - Nadelstreifenanzüge mit auf den Rük-ken gemalten Kreuzen, zerlumpte Marine- und Heeresuniformen, weiße Turbane, unpaare oder gar keine Socken, Tattersall-dressen, grobgehäkelte Schals mit Babies darin, Frauen in Uniformhosen, die an den Knien aufgerissen sind, flohzerbissene und bellende Hunde in jagenden Rudeln, Kinderwagen voll hoch aufgetürmtem Kleinmobiliar mit zerkratzten Furnieren, maßgefertigte Schubladen, die nie wieder in irgend etwas hineinpassen werden, gestohlene Hühner, lebendig oder tot, Hörner und Violinen in verwitterten schwarzen Kästen, Tagesdecken, Quetschkommoden, Großvateruhren, Koffer mit Spezialwerk-zeugen für Schreiner, Sattler, Uhrmacher, Chirurgen,

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