Die Enden der Parabel
sehen war. Jetzt sprühen, wenn sich der Wind erhebt, gelbe Funken mit dem Zischen einer Klapperschlange aus den alten, schwarz korrodierten Drähten, der Himmel dahinter ist filzgrau wie ein Hut. Grüne Isolatoren aus Glas laufen im
Licht des Tages an und werden blind. Hölzerne Masten stehen schief und riechen alt: dreißig Jahre altes Holz. Oben summen teerige Transformatoren. Als ob der Tag wirklich geschäftig werden würde. Pappeln in mittlerer Entfernung tauchen gerade aus dem Dunst auf.
Es hätte die Semlower Straße in Stralsund sein können. Die Fenster haben den gleichen, zerstörten Blick: die Räume hinter ihnen scheinen schwarz ausgebrannt zu sein. Vielleicht gibt's eine neue Bombe, die nur das Innere der Gebäude vernichtet... nein ... es war in Greifswald. Hinter ein paar feuchten Schienen ragten Ladegeschirre auf, Decksaufbauten, Masten, roch es nach Kanal... die Hafenstraße in Greifswald, auf seinen Rücken fiel der kalte Schatten einer mächtigen Kirche. Aber ist das nicht das Petritor, dieser verkrüppelte Torturm mit den Ziegelmauern, der sich dort vorn über die Gasse spreizt... es konnte die Slüter-straße in der Altstadt von Rostock sein... oder die Wandfärberstraße in Lüneburg, mit den Kranbalken hoch in den Treppengiebeln und schmiedeeisernen Wetterhähnen oben auf den Spitzen ... aber warum blickte er nach oben? Aus welcher von Dutzenden von möglichen Straßen des Nordens auch immer, nach oben in den Morgennebel? Je weiter man nach Norden kommt, desto einfacher werden die Dinge. Hier gibt es nur noch eine Abflußrinne, in der Straßenmitte, durch die der Regen abläuft. Die Pflastersteine sind geradliniger verlegt, man findet nicht mehr so viele Kippen. Die Garnisonskirchen sind erfüllt vom Gesang von Staren. In eine Stadt im Norden der Zone zu kommen ist ein Einlaufen in einen sehr fremden Hafen, an einem nebligen Tag. Doch in jeder dieser Straßen muß eine Spur des Menschlichen, der Erde überdauern. Egal, was ihnen angetan worden ist, wozu man sie benutzt hat... Da gab es Männer, die man "Heerespfarrer" nannte. Sie predigten in einigen dieser Gebäude. Es gab tatsächlich Soldaten, tot jetzt, die da saßen oder standen und ihnen zuhörten. Sich an alles klammerten, was ihnen Halt gab. Dann zogen sie hinaus, und manche starben, ehe sie wieder ins Innere einer Garnisonskirche zurückkehrten. Geistliche, die für das Militär arbeiteten, standen auf den Kanzeln und erzählten den Männern, die sterben sollten, von Gott, vom Tod, vom Nichts, von der Vergebung der Sünden und der Erlösung. So etwas geschah tatsächlich. Es war weit verbreitet.
Selbst in einer Straße, die für solche Dinge benutzt worden ist, wird es ein Damals geben, einen gefärbten Nachmittag (in koh-lenteer-unmöglichem Orangebraun, klar bis in die tiefsten Schichten) oder einen Tag des Regens und des Aufklarens vor dem Schlafengehen, mit einer Stockrose im Hof, die kreisend durch den Wind schwingt, frisch von Regentropfen, rund und fett zum Kauen... ein einzelnes Gesicht, ein Mädchen vor einer langen Sandsteinmauer und das Scharren all der verlorenen Pferde auf der anderen Seite, eine Haarsträhne, in blaue Schatten geworfen bei einer Drehung ihres Kopfs - ein Bus voller Gesichter auf der Durchfahrt mitten in der Nacht, da keiner wach ist auf dem stillen Platz außer dem Fahrer, dem Wachtmann vom Ortsschutz in seiner braunen, amtlich aussehenden Uniform, das alte Mauser umgehängt, träumend nicht vom Feind in Sumpf und Schatten, sondern von Heim und Bett, und seinem Zivilistenfreund, dienstfrei und schlaflos, mit dem er unter den straßen-staub- und nachtbedeckten Bäumen, durch ihre Schatten auf dem Bürgersteig auf und ab geht und seine Mundharmonika spielt ... vorbei an der Reihe der Gesichter im Bus, grün wie Ertrunkene, geflohen vom Schlaf, ausgehungert nach Tabak, geängstigt nicht vor dem Morgen, noch nicht, sondern von dieser Unterbrechung ihrer Nachtfahrt, von der Leichtigkeit des Ver-lierens und davon, wie sehr es schmerzen wird ...
Wenigstens ein Augenblick des Transits, einer, den zu verlieren schmerzen wird, sollte gefunden werden für jede dieser Straßen, die jetzt grau gleichgemacht sind von Geschäften, vom Krieg, von Unterdrückung ... ihn zu finden, liebenzulernen, was verloren war, könnte es uns nicht einen Weg zeigen, zurück? Auf einer dieser Straßen, im morgendlichen Nebel, über zwei rutschige Pflastersteine geklatscht, liegt ein Fetzen Zeitungspapier, darauf ein Stück
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