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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Scham vollzieht, bei Tag und Nacht: Massenexekutionen, Vertreibungen, Repressalien, Lügen, Paranoia, Schande ... Obwohl sie niemals offen darüber sprechen, scheinen sich Katje, Gottfried und der Hauptmann einig zu sein, diese alte, nordische Mythe, die ihnen allen bekannt und vertraut ist - die verirrten Kinder, die Waldfrau im eßbaren Haus, die Gefangenschaft, die Mästung, der Ofen -, zu ihrem beschirmenden Ritual zu machen, zu ihrem Zufluchtsort vor dem, was draußen unerträglich ist dem Krieg, der absoluten Herrschaft des Zufalls, ihrer eigenen, erbärmlichen Abhängigkeit in seiner Mitte ...
    Sicherheit gibt es nirgends, auch drinnen nicht, im Haus. Fast jeden Tag kommt es zu einem Fehlschuß. Ende Oktober stürzte eine Rakete nicht weit von diesem Gutshof ab und explodierte, wobei zwölf Soldaten der Bedienungsmannschaft ums Leben kamen und Fensterscheiben in einem Umkreis von mehreren hundert Metern zersprangen, darunter auch das Westfenster des Salons, in dem Katje ihren goldenen Bruder im Spiel zum erstenmal gesehen hatte. Offiziell war nur von einer Explosion der Alkohol und Sauerstofftanks die Rede, aber Hauptmann Blicero berichtete mit bebendem - sie fand schon: nihilistischem -Vergnügen, daß die Amatolladung des Sprengkopfs gleichfalls detoniert und so der Startplatz selbst zum Ziel geworden sei... daß sie alle verdammt wären ... Das Haus liegt knapp westlich der Rennbahn von Duindigt, also in der London entgegengesetzten Richtung, aber hier ist nichts unmöglich, keine Himmelsrichtung sicher. Oft ändern die Raketen eigenmächtig ihre Bahn, schleudern mit einem gräßlichen, wiehernden Geräusch über den Himmel und schlagen ein, wo ihr unbegreiflicher undso fürchtet man -unheilbarer Wahnsinn es will. Reicht die Zeit, zerstören ihre Eigner sie per Funk, mitten im Tanz. Zwischen den Schüssen kommen die englischen Luftangriffe. Spitfires röhren im Tiefflug zur Essenszeit über die dunkle See heran, über der Stadt rollt der Scheinwerfervorhang auf, der Nachklang der Sirenen hängt über den regennassen Drahtstühlen der Grünanlagen in den Wolken, Flakgeschütze knattern suchend nach oben, und Bomben fallen auf Waldinseln, Polder und Wohnviertel, in denen man Quartiere von Raketentruppen vermutet.
    Das bringt einen neuen Oberton ins Spiel, der die Klangfarbe subtil verändert. Es ist Katje, die die Hexe, irgendwann einmal, in den für Gottfried bestimmten Ofen stoßen muß. So muß der Hauptmann mit dem Risiko leben, daß sie eine britische Spionin ist oder dem holländischen Untergrund angehört. Trotz aller Anstrengungen der deutschen Abwehr fließt immer noch ein ungebrochener Strom von Informationen aus Holland zum Bomberkommando der RAF, verrät, wo Truppen auf marschieren, wo Nachschub rollt, hinter welchem dunkelgrünen Wipfelgewirr sich A-4-Stellungen verbergen - die Angaben ändern sich fast stündlich, so mobil sind die Raketen und ihre Bodengeräte. Doch die Spitfires werden sich an einem Umspannwerk, an einer Sauerstoffverflüssigungsanlage oder am Quartier eines Batteriekommandeurs schadlos halten ... Hier liegt die interessante Frage: Wird sich Katje eines Tages ihrer Verpflichtung ledig fühlen und englische Jagdbomber auf dieses Haus, auf das Gefängnis ihrer Spiele, herabrufen, selbst wenn es ihren eigenen Tod bedeutet? Hauptmann Blicero kann sich niemals sicher sein. Bis zu einem gewissen Punkt genießt er diesen Schmerz. Gewiß, ihre Akte bei Musserts Leuten ist ohne Fehl und Tadel. Sie hat mindestens drei kryptojüdische Familien aufgespürt, sie kommt regelmäßig zu den Parteiversammlungen, sie arbeitet in einem deutschen Luftwaffenkasino bei Scheveningen und ihre Vorgesetzten schildern sie als tüchtig und einsatzfreudig, kein Drückebergertyp. Auch schützt sie nicht, wie viele andere, politischen Fanatismus vor, um eigene Unfähigkeit zu überdecken. Da liegt vielleicht der Schatten einer Warnung: ihre Hingabe ist so ganz und gar nicht emotional. Sie scheint Gründe für ihre Mitgliedschaft in der Partei zu haben. Eine Frau, die etwas von Mathematik versteht und auch noch Gründe hat... "Wolle die Wandlung", schrieb Rilke, "O sei für die Flamme begeistert!" Zu Lorbeer werden, zur Nachtigall, zum Wind... es wollen, die Überwältigung, die Umarmung, den Sturz in die Flamme, die entgegenwächst und alle Sinne erfüllt... nicht lieben, weil es unmöglich geworden ist, zu handeln, sondern der Liebe hilflos ausgeliefert sein ...
    Nichts davon bei Katje: kein mottengleicher

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