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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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anliegend über die sanfte Wölbung ihres Schenkels, die Schnallen der Strapse glitzern silbrig unter oder hinter ihren rotgelackten Fingernägeln, huschen wie ferne Fontänen hinter roten Zierbäumchen vorbei, dann antwortet sie: "Oh, hm. Eine Pfeife, denk ich ..." Nicht weit von der Flakstellung, unterwegs zu ihrem Unterschlupf in Kent, entdeckten Roger und Jessica eines Abends eine Kirche, einen Eiskegel auf der dunklen Ebene, der lampenerleuchtet aus der Erde wuchs. Es war ein Sonntag und kurz vor der Abendandacht. Männer in Mänteln und in Ölzeug, mit dunklen Mützen, die sie am Eingang abnahmen, amerikanische Flieger in schafwollgefüttertem Leder, ein paar Frauen mit scharrenden Stiefeln und eleganten, breitschultrigen Umhängen, aber keine Kinder, kein einziges Kind war zu sehen, nur Erwachsene, die von ihren Bomberflugplätzen herbeigestapft kamen, von Ballonbiwaks und Bunkern am Strand, um in dem normannischen Torbogen zu verschwinden, der zottig war von überwinterndem Wein. Jessica sagte: "Oh, ich erinnere mich ..." und stockte. Sie dachte an einen anderen Advent und an die Hecken vor ihrem Fenster, schneeig wie Schafe, und an den Stern, der darauf wartete, wieder ans Himmelszelt geklebt zu werden.
    Roger fuhr an den Straßenrand, und sie beobachteten gemeinsam das schlurfende, mausgraue Militär, das da zur Vesper ging. Der Wind roch nach neuem Schnee. "Wir sollten schauen, daß wir nach Hause kommen", sagte sie nach einer kurzen Pause, "es ist spät."
    "Wir könnten doch mal reingehen, nur einen Augenblick."
    Uff, das war eine Überraschung, nachdem sie wochenlang nur hämische Bemerkungen von ihm gehört hatte: ungläubige Verachtung für die Psi-Kollegen, von denen er glaubte, sie wollten ihn in ihren Wahnsinn treiben, immer lautere Geiztiraden, je weniger Einkaufstage bis zum Fest verblieben. "Ich glaube kaum, daß das dein Fall ist", erwiderte sie. Doch sie selbst wollte hinein, Heimweh hing schwer im Schneehimmel der Nacht, und ihre Stimme war bereit, sie zu verraten, überzulaufen zu den Christsängern, deren Lieder wir jetzt leicht von ferne hören, während die Adventszeit Tag um Tag verrinnt, dünne Stimmen hinter vereisten Hügeln, in welche Landminen gesät sind, dicht wie Backpflaumen in den Weihnachtspudding... oft kamen solche Kinderstimmen, die um Sixpence-Stücke sangen, über dem Geräusch von schmelzendem Schnee zu ihr geweht, getragen von einem Wind, der nicht durch weihnachtliche Luft, sondern durch die Substanz der Zeit selbst zu blasen schien, und wenn ihr Herz auch nicht bereit war, schon alle Akkorde ihrer und ihrer eigenen Sterblichkeit darin zu hören, war ihr doch angst, sie könnte sie schon bald verloren haben - könnte eines Winters vor das Haus stürzen, das Gatter aufstoßen, bis zu den Bäumen laufen, um sie zu finden, doch alles wäre vergebens, die Stimmen verlöschten...
    Sie stapften in den Spuren der anderen durch den Schnee, schwer hing sie an seinem Arm, der Wind verwehte ihre Haare, und einmal glitten ihre Absätze auf dem Eis aus. "Nur wegen der Musik", erklärte er.
    Der Chor, der sich für diesen Abend zusammengefunden hatte, bestand nur aus Männern. Betreßte Schultern waren in den weiten Halsausschnitten der weißen Roben zu erkennen, und viele der Gesichter waren fast genauso weiß, erschöpft in feuchten Schlammfeldern, auf nächtlichen Flakwachen, an vibrierenden Halteseilen von nervösen Ballonen, die in den Wolken nach der Sonne fischten, in Zelten, aus welchen Lichter in der Dämmerung, verlorenen Seelen gleich, radioaktiv durch die Kreuzschraffur der Leinwand glommen, die sie in feine Gaze verwandelten, ein Trommelfell für den Wind. Doch ein Gesicht war schwarz, der Kontratenor, ein Corporal aus Jamaika, den es von seiner warmen Insel auf diese hier verschlagen hatte - fern vom Gesang seiner Kindheit in den rumrauchigen Spelunken der High Holborn Street, wo die Seeleute rote Riesenknallfrösche über die Schwingtüren warfen, jeder so groß wie eine Viertel Dynamitstange, und grölend über die Straße davonliefen oder mit kurzberockten Mädchen abzogen, mit Mädchen der Insel, Chinesinnen, Französinnen ... Zitronenschalen wurden in den Rinnsteinen der Straßen zerquetscht und durchdufteten die frühen Morgenstunden, wenn er "Wo steckt denn meine süße Lola, hat Kurven wie 'ne Flasche Cola" sang und Matrosen mit flappenden Halstüchern und weit ausgestellten Hosenbeinen in den braunen Schatten der Gassen an Mädchen vorbeiflanierten, die

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