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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Zaubertränke! (und während er sich endlich aufrichtet, wandert sein geistiges Auge in sein Büro und besichtigt den Verhau in der Kaffee-Ecke - o Gott... ) oder eine paraseelische Verschmelzung mit den Drahtziehern, die ihm dann praktisch im Gehirn säßen, ohne daß er es noch bemerkte ... ja, ja, 'ne ganze Menge Möglichkeiten, die ihm hier durch den Kopf schießen, und keine davon übermäßig ansprechend, vor allem nicht in diesem Waschsaal hier, wo Gavin Trefoils Gesicht heute morgen in hellem Magenta leuchtet, eine Kleeblüte, die sich im Winde wiegt, und Ronald Cherrycoke gerade zart marmorierten, bernsteingelben Schleim ins Becken speit was soll das eigentlich, wer sind all diese Leute ... Irre sind das! Irrrrrrre! Er ist umzingelt! Tag und Nacht haben sie ihn verfolgt, seit Kriegsbeginn, haben sein Hirn angezapft, Telepathen, Hexen, Satanshelfer aller Sorten, waren immer mit von der Partie - selbst dann, wenn er und Jessica im Bett beim Vögeln waren Reiß dich zusammen, Alter, Panik ja, wenn's sein muß, aber später und woanders ... Das trübe Funzellicht der Birnen verschränkt die Tausende von alten, über die Spiegel verstreuten Wasser- und Seifenflecken zu einem federigen Gewölk mit Haut und Rauch, während sein Blick vorbeistreift, zitronengelb, beige, ölqualmschwarz und zwielichtbraun, sehr locker gekörnt die Textur...
    Herrlicher Morgen, Weltkrieg Zwo. Alles, was er im Augenblick denken kann, sind die Worte Ich bitte um Versetzung, ein stimmloses Summen gegen den Spiegel, yessir, da müssen Sie mal gleich 'n Papierchen einreichen. Freiwillig zum Einsatz in Deutschland, dafür melde ich mich, jawoll. Dum di dum, di dum. Eben erst Mittwoch war doch unter den Chiffre-Anzeigen in Nazis in the News diese Annonce, eingeklemmt zwischen einen Labour-Ortsverband von der Merseyside, der einen PR-Mann suchte, und eine Londoner Anzeigenagentur, die freie Stellen hatte, sofort nach der Demob, hieß es. Und diese Anzeige dazwischen kam von irgendeinem Zweig der zukünftigen G5, der auf diese Weise ein paar "Re-Edukationsexperten" zusammenzutrommeln versuchte. Lebenswichtige Sache: der Deutschen Bestie die Magna Charta, Sportsgeist und so 'n Zeugs beibringen, gell? Draußen, mitten im
    Räderwerk irgend so 'ner neurotischen bayerischen Kuckucksuhr von einem Dörfchen, wo nachts die Werwölfe aus den Wäldern schleichen und subversive Flugzettel an Türen und Fenster pappen. "Alles!" Roger tappt zurück zu seinem engen Kabuff. "Alles, alles lieber als das hier..."
    So schlimm stand es also. Er wußte, daß er sich im wahnsinnigen Deutschland, beim Feind, mehr zu Hause fühlen würde als hier, in der Psi-Sektion. Die Jahreszeit trägt dazu bei: Weihnachten. Bwweeeaaaagghh! Er hält sich den Magen. Allein Jessica machte es noch menschlich und erträglich. Jessica ...
    Dann überwältigte es ihn vollends. Eine halbe Minute lang stand er bebend und japsend in seinen langen Unterhosen da, verschwommen, fast unsichtbar in der Umhüllung des Dezembermorgens, umgeben von den scharfen Kanten von so vielen Büchern, Papierstößen, Durchschlägen, Tabellen, Karten (darunter dieser einen, wichtigsten, die alles beherrscht, rote Pockennarben auf der reinen, blassen Haut von Lady London ...
    Moment... ein Hautausschlag... trägt sie die tödliche Infektion etwa in sich? Sind die Orte vorbestimmt, und ist die Flugbahn der Rakete nur die Folge der fatalen Eruption, die in der Stadt bereits latent vorhanden ist?... aber .er kommt nicht weiter, genausowenig wie mit Pointsmans Obsession, der akustischen Umkehrung von Reiz und Reaktion... und überhaupt- können wir das nicht bitte mal für einen Augenblick vergessen ...), heimgesucht, ohne zu wissen, bis es vorüber war, wie deutlich er die redliche Hälfte seines Lebens vor sich sah, die jetzt Jessica hieß, und wie fanatisch seine Mutter, der Krieg, Jessicas Schönheit hassen mußte, ihre freche Gleichgültigkeit vor den Todesinstitutionen, an die er selbst noch vor nicht allzu langer Zeit geglaubt hatte - ihre unbeirrbare Hoffnung (obwohl sie ungern Pläne machte), ihr Exil aus der Kindheit (obwohl sie sich stets weigerte, ihr Herz an die Erinnerung zu hängen)...
    Sein Leben war immer an die Vergangenheit gefesselt gewesen. Er hatte sich als Punkt auf einer Wellenfront gesehen, die durch die sterile Geschichte rollte - eine bekannte Vergangenheit, eine vorhersehbare Zukunft. An Jessica war diese Welle gebrochen. War auf einen Strand gelaufen, auf etwas Unvorhersehbares ...

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