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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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flüsternd ihre Köpfe zusammensteckten und kicherten ... eine halbe Hosentasche voller Münzen aus aller Herren Länder hatte er zu zählen, jeden Morgen. Aus diesem palmigen Kingston hatten ihn die unergründlichen Gelüste des angloamerikanischen Empire (19391945) in diese kalte Feldmauskirche hier verschlagen, fast in Hörweite jenes Nordmeers, von dem er bei der Überfahrt so gut wie nichts gesehen hatte, um ein englisches Choralprogramm zu absolvieren, mit polyphonen Abstechern zu Thomas
    Tallis, Henry Purcell, selbst einem makkaronischen Gesang aus Deutschland, aus dem vierzehnten Jahrhundert, Heinrich Suso zugeschrieben:
    In dulci jubilo, Nun singet und seid froh! Unsers Herzens Wonne Leit in praesepio, Leuchtet vor die Sonne Matris in gremio. Alpha es et O!
    Mit seiner hohen Stimme, die über allen anderen schwebte, keiner Kopfstimme im Falsett, sondern einem ehrlichen Bariton mit voller Brustresonanz, den erst Jahre unablässiger Übung auf diese Höhe gebracht hatten ... ließ der schwarze Mann braune Mädchen zwischen den nervösen Protestanten tänzeln, entlang den alten Pfaden der Musik, Big und Little Anita, die Stiletto May, Plongette, die es am liebsten zwischen ihren Titten machte und auf diese Art sogar umsonst - ganz zu schweigen vom Latein, vom Deutschen! In einer englischen Kirche! Doch eigentlich sind solche Dinge keine Häresien, sondern imperiale Konsequenz - notwendige Folgen, wie die Anwesenheit des schwarzen Mannes, jener Akte von beiläufigem Surrealismus, die, zusammengenommen, ein Akt des Selbstmords sind, den das Imperium in seiner Krankheit, seiner traumlosen Version des Wirklichen, tagtäglich tausendfach begeht, ohne im entferntesten zu wissen, was es tut... So stieg die reine Stimme des Kontratenors empor, fand ihren Weg in Jessicas Herz, gab ihm Auftrieb, und sogar Rogers, wie es ihr schien, wenn sie während der Rezitative und Pausen durch die geisterhaften braunen Schleier ihrer Haare einen schrägen Seitenblick zu ihm hinaufwarf. Es war kein Nihilismus an ihm, auch nicht der billige. Er war... Nein, ganz so wie jetzt hat Jessica sein Gesicht noch nie gesehen, im Schein dieser paar Petroleumlampen unter der Decke, deren tiefgelbe Flammen kaum flackern, zwei lange Fingerabdrücke des Küsters, ein Victory-V wie aus Blütenstaub, rund um den Glasbauch der zunächst hängenden, Rogers Haut kindlicher, rosiger, seine Augen glänzender, als die Art der Beleuchtung es erklären könnte - oder sieht sie nur, was sie unbedingt sehen will? Die Kirche ist genauso kalt wie draußen die Nacht. Es riecht nach feuchter Wolle, nach dem Bieratem all dieser Profis, nach Kerzenrauch und schmelzendem Wachs, verstohlenen Fürzen, Haarwasser und dem verbrennenden Petroleum, das alle anderen Gerüche mütterlich umhüllt, mehr als jene Teil der Erde, tieferer Schichten, anderer Zeitalter, und halt - hört hin: das ist das Abendlied des Krieges, die kanonische Stunde des Krieges, und diese Nacht ist Wirklichkeit. Schwarze Mäntel drängen sich zusammen, leere Hüllen voll kompakter Kirchenschatten. Drüben am Strand schuften noch immer die Marinehelferinnen, tief in kalten, ausgeweideten Stahlgehäusen, die blauen Flammen ihrer Schneidbrenner sind neue Sterne auf der Tide dieses Abends. An ächzenden Trossen, kurze Splitter von Geräusch, schwingen Rumpfplatten in den Himmel wie welke Blätter aus Eisen. Während der Pausen, in Bereitschaft, füllen die Flammen der Brenner, nun gedämpft, die runden Scheiben der Wasserstandsgläser mit aprikosenfarbenem Licht. In den eisbärtigen Schuppen der Rohrleger, wo es rasselt und klappert, wenn die Brise vom Kanal weht, liegen Tausende von alten, ausgedrückten Zahnpastatuben, oft bis zur Decke aufgehäuft, Tausende von trüben Menschenmorgen, die durch sie erträglich wurden, zu Pfefferminzfahnen verwandelt und zu tristen Liedchen, die als weiße Flecken auf den Quecksilberspiegeln zwischen Harrow und Gravesend überdauern, Tausende von
    Kindern, die Schaum aus den weichen Mörsern ihrer Münder gegurgelt haben und vielleicht noch tausendmal so viele Wörter zwischen diesem kreidigen Geblubber: Bettgehgeschrei, schüchterne Zärtlichkeiten, Neues von den fetten und den zarten, den zottigen und sanften Wesen aus dem Land unter der Steppdecke - ungezählte Augenblicke zwischen seifig und Lakritze, ausgespuckt und weggespült durch Abflußrohre in den trägschaumigen, grauen Strom, während der Tag verging und die Morgenmünder wieder pelzig wurden von Tabak und

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