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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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neues Leben. Vergangenheit und Zukunft kamen zum Stillstand am Strand. So hatte er es sich zurechtgelegt. Aber er wollte es auch glauben, genau wie er sie liebte, jenseits von Worten - wollte glauben, daß noch nichts entschieden war, wie finster die Zeiten auch sein mochten, daß noch immer alles anders werden, sie den dunklen Ozean in seinem Rücken noch immer wegleugnen, weglieben konnte. Und, ein wenig egoistisch, daß er mit ihrer Hilfe aus der Schwermut seiner Jugend, seiner Todesverliebtheit, seiner Komplizenschaft mit dem Tod den Weg ins Leben und zur Freude finden würde. Er hatte ihr nie davon erzählt, gestand es sich selbst kaum ein, aber er wußte, daß dies das Maß seines Glaubens war, während die siebte Weihnacht dieses Krieges schon ausholte, ihm einen neuen Hieb in seine hagere, zitternde Flanke zu versetzen ...
    Nervös scheucht sie im Schlafsaal auf und ab, seckiert die anderen Mädchen um einen Zug aus einer vertrockneten Woodbine, eine Nadel zum Repassieren ihrer Nylons, einen faulen Witz in dem neckischen Kriegston, der schon für Sympathie gilt. Sie wird den Abend mit Jeremy, ihrem Lieutenant, verbringen, aber sie möchte bei Roger sein. Und wieder nicht, genaugenommen. Oder etwa doch? Sie kann sich nicht erinnern, jemals so verwirrt gewesen zu sein. Wenn sie mit Roger zusammen ist, spürt sie nur Liebe, aber aus der Entfernung, der winzigsten Entfernung schon, deprimiert er sie und macht ihr sogar angst. Warum? Auf ihm, in den wilden Nächten, wenn sie ihn reitet, sein Schwanz ihre Achse, wenn sie sich zusammenreißen muß, um, wenn sie kommt, nicht wegzuschmelzen wie Wachs, nicht über die Decke zu fließen, hat sie nur Raum für Roger, Roger, Geliebter, bis ihr der Atem wegbleibt. Kaum sind sie aber raus aus dem Bett, gehen und reden, schon schneidet seine Bitterkeit, Düsterkeit tiefer als Krieg und Winter: er haßt England, haßt "das System", quält sich endlos, erzählt, daß er auswandern wird, sobald der Krieg vorbei ist, vergräbt sich in seiner papierenen Höhle aus Zynismus, haßt sich selber... und will sie ihn überhaupt herausziehen aus seinem Sumpf? Ist es nicht mit Jeremy viel sicherer? Sie versucht, sich diese Frage nicht zu oft zu stellen, aber gegenwärtig ist sie immer. Drei Jahre mit Jeremy. Genausogut könnten sie verheiratet sein. Drei Jahre sollten eigentlich zählen. Tage mit kleinen Stichen, kleinen Stützen. Die Bademäntel vom alten Beaver hat sie getragen, hat Tee und Kaffee für ihn gekocht, sie hat seine Augen gesucht, quer über Lastwagenhöfe, Tageszimmer, verregnete Schlammfelder, und was die Trostlosigkeit des Tages zerstört hatte, wurde wiedergefunden in diesem einen Blick, vertraut, voll von Vertrauen, zu einer Zeit, da dieses Wort nur für ein Stirnrunzeln oder einen kurzen Lacher gut ist. Das alles soll ausgelöscht sein ? Drei volle Jahre ? Nur für dieses wirre, egozentrische - ja: Kind? Meine Güte, über dreißig muß er sein, Jahre älter als sie. Irgend etwas hätte er inzwischen doch kapieren können, oder? aus seinen Erfahrungen gelernt haben? Das schlimmste ist, daß sie niemanden hat, mit dem sie darüber sprechen kann. Die Politik dieser gemischten Batterie, die professionelle Inzucht, das krankhafte, besessene Gegrübel über die Frage, wer um Himmels willen denn nun eigentlich was zu wem gesagt hat im Frühjahr 1942 vor Grafty Green in Kent oder auch sonstwo und wer darauf was erwidert haben sollte, aber schwieg, um statt dessen welchen Dritten zu informieren, dessen so geweckte Rachelust sich fortzeugt bis auf den heutigen Tag -sechs Jahre Verleumdung, Ehrgeiz, Hysterie machen jeden Versuch von Offenheit, gegenüber wem auch immer, zu einem Akt des reinen Masochismus.
    "Was 'n los, Trauerkloß?" Maggie Dunkirk bleibt vor ihr stehen, streicht sich die Handschuhstulpen glatt. Im Tannoy plärrt eine BBC-Swing-Band heiß synkopierte Weihnachtslieder.
    "Gib mal 'n Stäbchen, Mädchen", wird ziemlich automatisch mit der Zeit, gell ja, Jessica?
    Tja - "Hatte nur gerade das Gefühl, daß es hier aussieht wie in so 'nem verfluchten Garbo-Film, nicht nur der übliche Nikotinmangel, sorry, schon wieder falsch, also dann ... "
    Ja, hau bloß ab! "Hab mir gerade meine Weihnachtseinkäufe überlegt." "Und was kriegt er, der Biber?"
    Jessica konzentriert sich ganz auf das Festmachen ihrer Nylons, das ältere Paar, vornehoch, hintentief, wie ein Merkvers gleitet es wellenförmig durch die Finger, wäscheweißes, krauses Gummiband dehnt sich eng und

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