Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
Buchten, ohne Peripherie, ohne Zentrum. Rechts und links der unasphaltierten Straßen eine Art Science-Fiction-Ländlichkeit.
    Ich hatte bis elf Uhr in meinem Hotelzimmer zugebracht, um Stunden zu schinden, der Post Zeit zu geben, die frischen Briefe einzuordnen. Also blieb ich bei geschlossenen Vorhängen lange im Bett, legte mein Knie hoch, wehrte zweimal den Roomservice ab:
    »Nein, noch nicht.«
    Beim zweiten Mal:
    »Nein, bitte nein, nein.«
    Der Frühstückssaal war schon geschlossen, also stakste ich ins Restaurant, bestellte Reis und zwei Eier, aß die Hälfte und kehrte zurück in mein Zimmer. Die Mädchen vom Housekeeping hatten aufgegeben. Aus dem Mülleimer stieg der süße Geruch fauliger Mangos, ich warf die Illustrierte darauf. Sie fiel mit der Rückseite nach oben. Ein Frauenprofil trat aus bleichem Haar, der geöffnete Mund sprach zu der dunkelbraunen Zimmerdecke: »Meine Farbe Cremehaarfarbe.« Ich zog mein Schreibheft aus dem Gepäck und notierte auf einer frischen Seite: »meine Farbe Cremehaarfarbe«.
    Aus dem Mundstück eines Rohrs säuselte der Dampf der Wäscherei in den Hof und stieg durch den Schacht nach oben. Die beiden chinesischen Büglerinnen sahen ihm nach. Auch ich hatte den Kopf in den Himmel gehoben, als sehr hoch ein kleines Flugzeug durch die Bläue strich. Das Sonnenlicht strahlte von den Tragflächen schön und verspielt. Jetzt, da die Maschine an Höhe gewann, verschatteten sich die Flügel, der Rumpf tauchte ins Dunkel des tieferen Himmels, kroch aufwärts, schrumpfte und verdunstete allmählich auf dem blanken Tableau der Atmosphäre. Die Geschwindigkeit der Stadt dagegen ist die des Blicks, der sich abstößt, angesogen wird und weiter muss.
    Ich erreichte das Postamt mit einem nachgezogenen Bein. Dem Beamten war ich inzwischen nicht mehr so lästig wie anfangs. Sein »Nein« gehört zu seinem Beruf wie das Anlegen des Kittels am Morgen. Jetzt schüttelte er den Kopf schon, wenn ich noch fünf Meter vor seinem Tresen war. Aber ich bildete mir ein, dass er begonnen hatte, mich zu bedauern.
    Die Straße hinter dem Postamt endete in einem abgeschälten Rasenhang mit verstreutem Abfall, zerfetzten, verbogenen, zusammengeknüllten Objekten. Oben auf dem Plateau wanden sich ein paar Rentner in langsamen, selbstverliebten Bewegungen. Alte Frauen in Schlafanzügen und mit Haarnetzen gestikulierten einem Unsichtbaren entgegen, zerlegten mit militärischer Disziplin die Luft in Quader, dann in Streifen, immer aus der Stärke der eigenen Körperachse sprechend. Ich schleppte mich den Hang hinauf, um zuzusehen.
    Auf der Parkbank zur Linken trank die Meisterin eben aus einer Schweppes-Dose, neben ihr ein Schwert im Futteral, ein großes rituelles Schwert mit schwerfälligem Schaft. Kaum war sie meiner gewahr geworden, setzte sie ihre Dose ab und näherte sich mit vorgestreckten Armen, beiden Armen. Das Unsichtbare hatte Gestalt angenommen, meine. Die gesamte Gruppe drehte sich um ihre Gruppenachse und wandte sich mir zu, mit Kabuki-Gesichtern, dem in der Nasenwurzel konzentrierten Blick, dem vom Boden langsam sich aufhebenden und geräuschlos niederkommenden Ausfallschritt.
    »Weg!«, zischte die Alte am Kopf ihrer Truppe.
    Ich trat zwei Schritte zurück, knapp vor den Abhang.
    »Go away! Away!«
    An ihrem abwehrenden Arm isolierte sich ein Zeigefinger, flog den Abhang hinunter und weiter über die Stadt, in einer Höhe über dem Meer, über die Horizontlinie, die Krümmung des Erdballs. Dann flogen ihre Arme wieder auf wie von einem Windstoß, einer Welle erfasst. Dies war nicht mein Park.
    Über dieselbe Straße trat ich den Rückzug an. Auf dem ersten Plakat, das kam, bückten sich drei Mädchen in kurzen Nachthemden nach einer überdimensionierten Zeitung. Die drei lachten schallend, es war das erste Mal, dass Frauen meinem Blick nicht auswichen. Ich sah immer noch das Schwert auf der Parkbank liegen. Zu Beginn der Übung wird es, wie die Monstranz, vor der Gemeinde erhoben und vorgezeigt.
    Im Fernsehen wiederholte man europäische Fußballspiele aus dem Vorjahr und chinesische Opern in den Ausstattungen der fünfziger Jahre. Heute fehlte mir der Liebreiz der Fernsehwerbung, die herzliche Anbiederung der Plakate, die um die westliche, die Verbrauchskultur organisierte, intime Oberflächlichkeit.
    In der Nacht schwoll mein Knie so weit an, dass ich am nächsten Tag das Zimmer nicht verlassen konnte und an den folgenden Tagen auch nicht. Ich rief keinen Arzt, der Zimmer-Service brachte

Weitere Kostenlose Bücher