Die Enden der Welt
noch am Rande des Friedhofs, da kommt dieser kolossale Mann in der Ta’ovala-Matte aus geflochtenen Pandanusblättern, kommt im Kreise der schwarzgewandeten Familie und sagt zu einer Frau an der Veranda:
»You know, my mother passed away just recently, but she was old, so it was no surprise«, und alle lächeln, auch die Tochter.
Es ist, wie ich erst jetzt sehe, May aus dem Flugzeug, und als sie mich erkennt, lächelt sie ein bisschen mehr. Dann wenden sie sich wieder ab und beraten sich auf dem Friedhof mit den Toten. Sie besprechen die Begräbniszeremonien: das Verbrennen von bestimmten Körperstellen, das Wundschlagen der Wangen oder Verwunden am Kopf. Ja, der gefährlich Dahinsiechende kann geheilt, dem Schmerz des Todes kann begegnet und der Dahingeschiedene im Jenseits unterstützt werden durch solche Rituale. Als Teil der Krankenheilung opfern rangniedrige Verwandte einen Finger oder ein Fingerglied. Um einen Gesundungsprozess zu beschleunigen, gab es für Häuptlingsfamilien früher auch Menschenopfer. Schon Georg Forster beobachtet als Begleiter von James Cook, dass vielen Menschen Finger fehlten, die als Opfer für eine erkrankte hochstehende Person abgetrennt wurden.
Erst durch Cook wurde auch der Ausdruck »Tabu« von hier aus in die Welt gebracht. Tabu sind Plätze, Speisen, Handlungen, auch Menschen und Beziehungen zwischen Menschen. So ist der Vater mit einem Tabu belegt und darf von den Kindern nicht am Kopf berührt werden. Ebensowenig dürfen diese von seinen Speisen essen, oder, so sie Bruder und Schwester in der Pubertät sind, gemeinsam in einem Hause schlafen. Obendrein vermitteln zwischen all den Lebenden die Geister der Ahnen liebend und strafend. Bei Freud sind Ahnen grundsätzlich Projektionsfiguren. In ihnen manifestiert sich das »Clangewissen«, eine der ältesten Formen des Gewissens überhaupt. In Tonga ist es nicht anders.
Vom Tabu belegt ist ebenso Feitama, die Schwangerschaft, die Vorbereitung des Kindes. Die ganze Familie partizipiert an diesem Prozess, so dass es in dieser Zeit keine Privatsphäre mehr geben kann, keine Heimlichkeiten. Der Mann teilt sich mit der Gattin in den Prozess der Schwangerschaft. Er teilt gewisse Nahrungstabus und zeigt selbst Symptome von Übelkeit und Erbrechen. In solchen Tabuisierungen bilden sich die Vorstufen für das Über-Ich heraus, eine Art Protektorat der Gesellschaft aus dem Geist kollektiver Verbote.
Der Mann, der in seinem am Straßenrand geparkten Wagen durch das heruntergekurbelte Fenster seines Pick-ups das Meer betrachtet, trägt eine Gesichtstätowierung auf der braunen Haut. Er streckt seine Hand durch das Fenster, damit ich einschlage. Das tue ich, und so bleiben wir. In den nächsten Tagen werden wir unzertrennlich sein. Er wird mich über die Insel fahren, mir ein Stück Land anbieten, mich seiner Frau und zweien seiner Kinder vorstellen. Er wird seine Lebensgeschichte mit mir teilen und sein Essen. Zuerst aber versichert mir Douglas inständig, er heiße Douglas. Er zieht sogar ein Papier heraus, auf dem zu lesen ist, dass er wirklich so heißt. Er war Rugby-Profi in Australien. Zum Beweis zeigt er eine furchtbare Operationsnarbe, die seine rechte Schulter ganz umspannt. Ich sage:
»Ich glaube Ihnen.«
Darauf erzählt er mir die Geschichte eines Mannes, der ihm nicht glaubte.
Douglas fehlt der kleine Finger der rechten Hand.
»Auch vom Rugby?«, frage ich und zeige auf den an der Wurzel entfernten Finger.
»Nein«, sagt er und steckt die Faust ins Gewand. »Schauen Sie, Mangos überall. Wir wissen nicht, wohin damit. Wir füttern schon die Schweine mit Mangos.«
Douglas hat vier Kinder, er lebt nach traditionellen Vorschriften und erzieht sie streng. Seine Frau steht auf der Rasenfläche vor dem Häuschen wie ein Götzenbild, eine selbstversunkene Schönheit von großer Schüchternheit und einer Grazie, die ihren riesigen Körper zart wirken lässt. Douglas hat befolgt, was seine Kultur vorschrieb, alles andere wäre undenkbar gewesen: Die Familie sucht den Mann aus. Entscheidend dabei ist, dass die Familie den Mann liebt. Seine Erzählung stockt. Er will nicht recht heraus mit der Sprache. Fürchtet er, sich lächerlich zu machen? Hat man ihn in Australien als primitiven Insulaner verlacht?
Bei der Trauung, berichtet er dann doch, erhält die Braut in der Kava-Zeremonie den besonderen dritten Becher. Anschließend sitzen Braut und Bräutigam auf dem Schoß der jeweiligen Mutterbrüder. Kava, das ist jener Sud der
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